Michaelis

Von | Oktober 9, 2021
Die Vertreibung Hagars

Gnade sei mit euch und Friede,
von Gott, unserem Vater,
und dem HERRN, Jesus Christus. Amen.

8 Und das Kind wuchs heran und wurde entwöhnt. Und Abraham machte ein großes Mahl am Tage, da Isaak entwöhnt wurde.
9 Und Sara sah den Sohn Hagars, der Ägypterin, den sie Abraham geboren hatte, wie er Mutwillen trieb.
10 Da sprach sie zu Abraham: Treibe diese Magd aus mit ihrem Sohn; denn der Sohn dieser Magd soll nicht erben mit meinem Sohn Isaak.
11 Das Wort mißfiel Abraham sehr um seines Sohnes willen.
12 Aber Gott sprach zu ihm: Lass es dir nicht mißfallen wegen des Knaben und der Magd. Alles, was Sara dir gesagt hat, dem gehorche; denn nur nach Isaak soll dein Geschlecht benannt werden.
13 Aber auch den Sohn der Magd will ich zu einem Volk machen, weil er dein Sohn ist.
14 Da stand Abraham früh am Morgen auf und nahm Brot und einen Schlauch mit Wasser und legte es Hagar auf ihre Schulter, dazu den Knaben, und schickte sie fort. Da zog sie hin und irrte in der Wüste umher bei Beerscheba.
15 Als nun das Wasser in dem Schlauch ausgegangen war, warf sie den Knaben unter einen Strauch
16 und ging hin und setzte sich gegenüber von ferne, einen Bogenschuß weit; denn sie sprach: Ich kann nicht ansehen des Knaben Sterben. Und sie setzte sich gegenüber und erhob ihre Stimme und weinte.
17 Da erhörte Gott die Stimme des Knaben. Und der Engel Gottes rief Hagar vom Himmel her und sprach zu ihr: Was ist dir, Hagar? Fürchte dich nicht; denn Gott hat gehört die Stimme des Knaben, der dort liegt.
18 Steh auf, nimm den Knaben und führe ihn an deiner Hand; denn ich will ihn zum großen Volk machen.
19 Und Gott tat ihr die Augen auf, daß sie einen Wasserbrunnen sah. Da ging sie hin und füllte den Schlauch mit Wasser und tränkte den Knaben.
20 Und Gott war mit dem Knaben. Der wuchs heran und wohnte in der Wüste und wurde ein guter Schütze.
21 Und er wohnte in der Wüste Paran und seine Mutter nahm ihm eine Frau aus Ägyptenland.

Mose 21, 8-21


Gebet: HERR, Schöpfer Himmels und der Erden, befiehl Du Deinen Engeln, daß sie um und bei uns seien. Begleite Dein Wort mit Deiner großen Gnade. Amen.

Liebe Gemeinde!
Gott hat eine sichtbare und eine unsichtbare Welt geschaffen. Das, was wir sehen, ist nicht die ganze Wirklichkeit. Es gibt nicht nur Wetter, wachsende Bäume, Lebewesen, die sich vermehren, Sterne, Wasserströme und alle anderen Elemente. Schon in der sichtbaren Welt ahnt man, daß Mächte und Energien am Werk sind, die man nicht sehen kann.
Psalm 104 sagt uns: „Du, Gott, machst Winde zu deinen Boten und Feuerflammen zu deinen Dienern.“ (Psalm 104, 4) Das heißt: Was wir mit den Augen sehen können, ist nicht die vollständige Erklärung von dem, was geschieht. Gott bedient sich des Windes und der Feuerflammen, und macht sie zu Seinen Dienern.
So hören wir denn auch in Psalm 103 – dem heutigen Introitus – „Lobet den HERRN, ihr seine Engel, die ihr seinen Befehl ausrichtet, daß man höre auf die Stimme seines Wortes. Lobet den HERRN, alle seine Heerscharen, seine Diener, die ihr seinen Willen tut.“ (Psalm 103, 20-21).
Gott hat unendliche Möglichkeiten in der unsichtbaren Schöpfung, auf die sichtbare Schöpfung zu wirken, Einfluß zu nehmen, sie nach seinem Willen zu lenken.
Wer Gott nicht kennt, der kennt auch diese Dimension der Wirklichkeit nicht, und kann auch nicht mit ihr rechnen. Der hat nur das Sichtbare. Und wenn das Sichtbare vergeht, kommt nichts danach.
Wer aber an Gott glaubt, zu dem Glauben gehört auch die Gewißheit, daß die sichtbare Welt nicht die ganze Wirklichkeit, ja, daß Gott vom Himmel aus jeder Situation überlegen ist, daß Gott nicht durch das Sichtbare festgelegt ist, sondern Engel geschaffen hat, die Seinen Willen durchsetzen.
Wie sah den die sichtbare Welt für Hagar und ihren vielleicht 15 oder 16-jährigen Sohn Ismael aus? Was gab es zu sehen? Sie waren verirrt in einer Wüste. Sie waren von ihrem Zuhause ausgestoßen – es gab kein Zurück mehr. Der Schlauch mit Wasser war leer. – Zu sehen war noch ein Strauch, sonst Sand, Steine, Leere. Alles Sichtbare war hart und unbarmherzig, ja ablehnend. Der Sohn verschmachtete. Das kann Hagar nicht mehr mit ansehen. Einen Bogenschuß weit läßt die Mutter sich nieder. Die sichtbare Welt macht sie tieftraurig. „Sie erhob ihre Stimme und weinte.“ Alles, was zu sehen war, war ein Beweis, daß es mit ihrem geliebten Sohn und mit ihr selbst zu Ende geht. Sonst war nichts in Sicht. Der Durst, die Schwäche, die Hitze unterstrich diese Sicht. Hinzu kam die Tatsache, daß Abraham und Sara die Mutter Hagar und den Sohn Ismael ausgestoßen hatten. Da gab es nur noch den Tod.
Doch die sichtbare Welt ist nicht alles.
Was gibt es denn da, in der unsichtbaren Welt –was ist obwohl unsichtbar, doch wirklich? Was ist sogar wirksam, und ändert die ganze Situation, obwohl es unsichtbar ist?
Als erstes hören wir: Da erhörte Gott die Stimme des Knaben. Das ganze Elend kommt bei Gott an. Es verhallt nicht in der Wüste. Gott ist nicht nur der Schöpfer, sondern er ist auch ganz Ohr. „Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht hören; der das Auge gemacht hat, sollte der nicht sehen?“ (Psalm 94, 9). Das Geschrei, der Ruf nach Hilfe oder das Seufzen wird gehört. Gott hört es. Das gehört zu unserem Glauben. Hagar und Ismael sind nicht allein und verlassen. Aber das können sie nur glauben, wenn sie festhalten: Die sichtbare Welt ist nicht alles!
Dann sendet Gott einen Engel. Ein Geschöpf, ein vernünftiges Geschöpf der unsichtbaren Schöpfung kommt in die Situation hinein – ein Stück Himmel, eine Portion Offenheit, ein Minimum an Bewegung.
„Und der Engel Gottes rief Hagar vom Himmel her“ – Zuwendung. Wer weiß, wie Hagar das wahrgenommen oder gespürt hat. Es war aber ausreichend so, daß sie wußte: Ich bin gemeint. Eine Zuwendung aus der unsichtbaren Welt geschieht. Hagar ist mehr, als das was sie im Moment fühlt. Vor ihr ist nicht nur der sichere Tod und weiter garnichts. Sie wirf gerufen. Ein Ruf kommt immer von woanders her. Wenn jemand mich ruft, bin ich gezwungen, mich umzuschauen: Wo kommt der Ruf her? Wer ruft? Meine Perspektive vergrößert sich, die Situation bewegt sich. Es ist etwas Persönliches. Ein heulender Wind ist nicht persönlich. Rieselnder Sand meint mich nicht. Hier meldet sich ein Geschöpf, das meint mich. So hat Hagar das erlebt.
„ und sprach zu ihr: Was ist dir, Hagar?“ – und sprach zu ihr. Mit Namen. Sie war schon so gut wie tot, ohne Namen. Dieser Ruf weckt sie wieder auf. Was ist los? Was ist dir? Hast Du schon aufgegeben? Die Situation weitet sich. Hagar wird wieder zu einer Person. Sie ist jetzt nicht mehr nur das Ergebnis von Durst und Verschmachtung, sie ist nicht mehr nur das Resultat von dem, was in der sichtbaren Welt vor sich geht. Das schafft Gottes Engel, der vom Himmel her sie ruft. Es ist schon so etwas wie ein Ruf aus einem Schlaf, ja, aus einem Grab.
Damit ist das Entscheidende schon passiert. Hagar ist nun nicht mehr bei lebendigen Leibe schon tot. Der Engel hat sie als Person neu aktiviert und vor Gott lebendig gemacht. Davon weiß die sichtbare Welt nichts. Aber in der unsichtbaren Welt ist es eine Realität.
„Fürchte dich nicht; denn Gott hat gehört die Stimme des Knaben, der dort liegt.“ Gott weiß Bescheid. Gib nicht auf. „Fürchte dich nicht!“ – Hab keine Angst! Es ist gut! – Hagar hatte Angst. Sie war eigentlich nur noch Angst, und sonst gar nichts. Ihr Leib und ihre Seele waren mit Furcht angefüllt. Doch der Engel ruft sie mit Namen – sie wird zu einer Person vor Gott. Es kommt etwas nach der Furcht. Es kommt. Hagar wird aus der Furcht herausgerufen. Gott hat diese Möglichkeit durch alle sichtbaren Dinge hindurch zu rufen. Heraus aus der Angst.
Die flehende Stimme des Knaben ist im Himmel angekommen. Also dort, wo Gott Seine Engel mobilisiert. Engel vermitteln die Gewißheit, daß Gott Bescheid weiß. Engel können im Guten unsere Gedanken und Gefühle sortieren, daß diese Gewißheit klar wird. In der sichtbaren Welt scheint sich nichts zu ändern, aber in der unsichtbaren Welt, da ist schon alles anders. Hagar ist nicht mehr erfüllt von der sicheren, todsicheren Erwartung: Jetzt kann nur noch das Ende kommen. Der Ruf des Engels hat das verändert. Es ist jetzt anders.
„Steh auf, nimm den Knaben und führe ihn an deiner Hand; denn ich will ihn zum großen Volk machen.“ Hagar, diese Person vor Gott, die der Engel gerufen hat, wird mobilisiert, in Bewegung gesetzt. Sie kann neu für ihren Sohn da sein. Gott macht aus ihr wieder einen Menschen, der sich zuwenden kann, der motivieren kann. Das ist nicht das Ergebnis ihrer Gefühle, das hat ihr die sichtbare Welt nicht gezeigt. Das kommt vom Himmel. Der Himmel hat eben Möglichkeiten, von der die sichtbare Welt nichts weiß.
„Und Gott tat ihr die Augen auf, daß sie einen Wasserbrunnen sah. Da ging sie hin und füllte den Schlauch mit Wasser und tränkte den Knaben.
Und Gott war mit dem Knaben.“
Gott zeigt ihr den nächsten Schritt – da ist ein Wasserbrunnen. Vielleicht hatte sich ganz kurz davor beschlossen, daß alles zu Ende sei. Wir wissen es nicht. Etwas mußte in der unsichtbaren Welt passieren, damit sie diesen lebensrettenden Brunnen auf einmal vor sich sah, und zu ihm hingehen konnte.
Damit ist der Brunnen nicht irgendein Brunnen, sondern ein Geschenk des Himmels, ein Zeichen der Liebe Gottes. Also ist der Brunnen nicht einfach ein Teil der sichtbaren Welt, sondern zugleich in der sichtbaren Welt ein Hinweis auf den Himmel.
Und das Leben, das mit diesem Wasserbrunnen für Hagar und Ismael neu begann, war jetzt aufs Neue ein Leben mit Gott. Wie es geschrieben steht: „Hagar ging hin und füllte den Schlauch mit Wasser und tränkte den Knaben. Und Gott war mit dem Knaben.“
Liebe Gemeinde! Der Glaube, daß Gott Diener und Boten zur Verfügung hat, die Seine Kinder finden und erreichen, dieser Glaube ist notwendig.
Mehrfach hören wir im Evangelium, daß über Jesus der Himmel offen ist, und das bei ihm die Engel zwischen Himmel und Erde auf – und herabfahren. Das heißt, wer bei Jesus ist, der soll sich darauf verlassen, daß seine Situation nach oben offen ist, Gott hört das Schreien und Rufen. Aber auch, daß vom Himmel etwas zu ihm in seine Situation kommt. Gutes, Hoffnung, Trost, ja ein ganzer Brunnen neuer Kraft.
Gottes Engel mögen uns alle rufen, finden, begleiten und zu Gott führen.
Amen.

Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Beitragsbild

Jan Victors: Die Vertreibung Hagars

um 1635, Leinwand, 131 × 157,5 cm
Budapest, Magyar Szépmüvészeti Múzeum
Land: Niederlande (Holland)
Stil: Barock
[Victors, Jan. The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei, S. 12082 (c) 2005 The Yorck Project]