Reformationsfest

Von | November 8, 2021
Martin Luther predigend.

Die Gnade unseres HERRN Jesus Christus
und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
sei mit euch allen.
Amen.

1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und
laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!
2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden laßt, so wird euch Christus nichts nützen.
3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden läßt, daß er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.
4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen.
5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muß.
6 Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Galater 5, 1-6

Lieber Herr Jesus, Du hast gesagt: Wenn euch der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei. Mach, daß das auch bei einem jeden von uns geschieht. Segne Dein Wort an unsren Herzen. Amen.

Liebe Gemeinde!

Die Reformation ist die Antwort auf eine Frage: Was macht die Kirche zur Kirche? – Mit anderen Worten dieselbe Frage: Was macht einen Christenmenschen zu einem Christen?
Man muß genau hinhören: „Was MACHT …?“ Das ist eine andere Frage als: „Was TUT … ein Christ, oder was sollte ein Christ tun.“ Es ist erst recht eine himmelweit andere Frage als: „Was kann ich von den Christen erwarten?“ Diese letzte Frage ist die beliebteste, denn mit der lenkt man von sich selber ab und beurteilt andere.
Daß diese Frage durcheinandergeworfen werden, das ist die Normalität. Sie werden bis zur Unkenntlichkeit vermischt und verwechselt. Und dann ist einfach alles falsch.
Wenn diese beiden Fragen dann einmal NICHT verwechselt und vermischt werden, dann kann man ganz ruhig davon ausgehen, daß Gott ein Wunder getan hat. Die Christenheit und jeder einzelne Christ ist ganz und gar von diesem Wunder abhängig. Wer nicht bereit ist, sich auf Wunder zu verlassen, der kann eigentlich kaum ein Christ sein.
Was macht einen Christen zu einem Christen, was macht die Kirche zur Kirche?
Diese Frage erhebt sich nicht erst heute; vor 500 Jahren war sie auch nicht neu – schon das Neue Testament ist umgetrieben von dieser Frage.
Der Apostel Paulus schreibt an die Galater genau über diese Frage. Er hatte ihnen Jesus Christus „vor die Augen gemalt als den Gekreuzigten“ (Galater 3, 1), er hatte die Begegnung mit den Auferstandenen und seine Berufung bezeugt (Galater 1, 16). Diese Verkündigung brachte den Galatern den Heiligen Geist und der Heilige Geist schuf in ihnen den Glauben (Galater 3,2) – und der Heilige Geist machte sie zu Christen.
Wenn Paulus Christus als den Gekreuzigten verkündet, dann ist das viel mehr als eine historische Information. Es ist eine Einladung, ein Angebot im Namen Gottes. Eine Einladung, das eigene Leben auf eine neue Grundlage zu stellen. Eine Einladung in die Freiheit mit Gott. Das bedeutet aber eine Einsicht: Ich bin nicht frei, ich bin ohne Gott. Christus bringt uns Freiheit mit Gott. Das macht einen Christen zu einem Christen, wenn er bekennt: Mit Gott bin ich frei. Jetzt. Und bis ans Ende. Und danach. Immer. Ein Christ muß sagen können: Gott hat mir Seine Freiheit mitgeteilt.
Jesus sagt im Johannesevangelium zu den Juden die an ihn glauben: „Wenn euch der Sohn Gottes freimacht, so seid ihr recht frei, und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen.“ (Johannes 8, 32). Ein Christ wird ein Christ dadurch, daß Christus an ihm handelt.
So sagt es Paulus: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Das sind zwei Aussagen: Ein Christ ist frei, und Christus schenkt diese Freiheit. Der Glaube nimmt in sich auf, was Christus getan hat, und ergreift darin Gottes Freiheit.
Christus macht Christen. Wo das geschieht, da ist Kirche.
Wo ist jetzt das Problem? Wo war das Problem, mit dem die Reformation sich herumschlug?
„So steht nun fest und laßt euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ Die Freiheit Gottes, die durch den Glauben im Christen ist, ist bedroht. Es gibt ein Joch, eine Unfreiheit, eine Knechtung und Bindung, in der Gott nicht mit göttlicher Freiheit beim Christen ist.
Dieses Joch kommt unter dem Namen des Christentums, ist aber keines. Genau das war ja das Problem der Reformation: Es waren ja alles Christen. Es waren ja alle in der Kirche. Und doch stimmte etwas nicht. Die Reformation fragte hartnäckig: Wo ist die Freiheit, die Christus gebracht hat? Wo ist die Freiheit, die uns zu Christen macht?
Jetzt muß aber auch bei uns ein Wunder geschehen: Bei dem Wort Freiheit kann man sich eine Menge denken. Ganz schnell denkt man an jene Freiheit, sich von niemandem etwas sagen zu lassen, und alles selbst zu bestimmen, ja, am besten für mich: Freiheit von allen Regeln – und meine Freiheit, alle anderen meinem Willen zu unterwerfen. Aber das ist nicht die Freiheit, die Christus bringt. Unsere Freiheit ist jeden Moment mit Christus verbunden. Sonst ist es eine Freiheit gegen Gott, und das ist keine Freiheit.
Also: Paulus sagt uns: Es gibt ein Joch, eine Bindung, vor der Christen sich hüten müssen: Laßt es euch nicht auferlegen!
Was ist dieses Joch denn? Die Antwort ist nicht einfach.
Bei den Galatern konnte man es mit einem Wort zusammenfassen: „Beschneidung.“ – Das ist ziemlich peinlich. Aber bei Paulus ein großes Thema. Also müssen wir darüber kurz nachdenken, und hoffentlich daraus Erkenntnis gewinnen, die uns für die Freiheit Gottes rettet.
Die Galater waren nicht beschnitten, denn sie waren nicht Juden. Sie waren aber Christen. Christus hatte in ihr Leben eingegriffen und ihnen Freiheit gebracht. Freiheit mit Gott. Paulus hatte den Galatern gezeigt, wie Christus am Kreuz frei war, das Böse von uns Menschen zu tragen und zu überwinden. Das haben die Galater sich gefallen lassen und im Glauben angenommen. Wunderbar.
Doch dann. Ja, dann. Dann kamen Prediger an, die mit ernsten Gesichtern sagten: Das ist alles nicht genug. Da fehlt was. Euer Glaube ist eine Täuschung. Warum? Ihr seid nicht beschnitten. Ihr habt das übersehen, Paulus hat das übersehen. Wenn ihr nicht beschnitten seid, dann ist das alles nicht gültig.
Was passiert da? Warum ist das ein Problem? Es ist ja im Grunde nur eine Kleinigkeit. Ein kleiner Akt.
Doch Paulus sagt in aller Form, er setzt seine ganze Person als Apostel da hinein: „Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden laßt, so wird euch Christus nichts nützen.“ Mit anderen Worten: Wer an dieser Stelle nachgibt, verliert Christus und die Freiheit, die Christus bringt.
Was ist es denn an der Beschneidung, daß sie so gefährlich sein soll? An sich hat dieser Akt mit dem Glauben ja nichts zu tun.
Das Problem ist: Die Prediger, die mit der Beschneidung ankamen, stellten sie als eine Notwendigkeit da. Ohne sie sei Christus nicht effektiv. Ihre Theologie sagt: Die Beschneidung ist die eindeutig fraglos gute Tat, die du tun mußt, sonst erkennen wir deinen Glauben nicht an.
Was ist die Gefahr? Unter der Überschrift „Beschneidung“ binden diese Prediger den Glauben auf einmal an Menschen: Du mußt tun, was wir Menschen dir sagen. Und in dem Moment sind die Galater nicht mehr allein mit dem gekreuzigten Christus, und darum auch nicht frei mit Gott. Sondern was? – Die Galater sind jetzt ohne Christus, dafür aber gebunden an Menschen und an ihre eigenen Möglichkeiten.
„Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden läßt, daß er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.“ Also: Die Beschneidung ist der Anfang. Wie ein brutaler Vertrag, der immer teurer wird und immer neue Bedingungen stellt. Im Alten Testament hatte Gott die Beschneidung gefordert. Sie war das Zeichen dafür, daß ein Mensch sagte: Ich nehme das Gesetz auf mich. Wenn ich es tue, soll Gott mich segnen, wenn ich es übertrete, soll Gott mich strafen. Es war ein Vertrag ohne Gnade oder Vergebung. Freiheit gab es nur als selbst erarbeitete Freiheit, nicht als Geschenk.
Theoretisch war das wahr, doch die Wirklichkeit sah so aus: Die Freiheit ist unerreichbar. – Das war ja auch die Realität, an der Luther nicht vorbeikam: Es wird immer ein Gesetz geben, das mich anklagt. Es wird immer Beweise geben, daß ich mich nicht ganz, mit aller Kraft und ohne Vorbehalt ganz in Gottes Willen begeben habe. Das ist aber das Gesetz. Die Forderungen hören niemals auf. Die Anklage auch nicht. – Das ist das Joch, vor dem Paulus warnt. Jesus auch.
Ein Teil des Problems ist Folgendes: Diese Forderung nach der Beschneidung an Christus vorbei stellte Menschen nicht vor Gott, sondern vor Menschen. Paulus verkündigte Christus, und stellte sie damit vor Gott. So kann Gott am Menschen handeln. Die Predigt des Paulus verschafft den Menschen sozusagen in das Sprechzimmer Gottes. Jesus ist der Arzt, der den kranken Menschen behandelt und heilt. Wenn Christus richtig verkündigt wird, sitzt ein Mensch allein mit seinem Arzt Christus im Sprechzimmer. So wird man ein Christ.
Die Beschneidungsprediger sagten im Grunde: Wir zeigen dir, wie du dich selbst heilen kannst. Damit waren die Galater auf sich selbst zurückgeworfen: Wie kann ich das tun? Was muß ich tun? – Du mußt dich beschneiden lassen! Und dann? Dann …. dann kam nach und nach das ganze Gesetz: Immer neue Forderungen: Dieses Fest feiern, jenes Opfer bringen, Fasten, Spenden – bis in Unendliche. – Ergebnis: Die Galater mußten immer wieder aufs Neue von diesen Predigern hören, was sie tun sollten, aber sie wären nie heil geworden. Ihr Gewissen war nicht mehr bei Gott in Sicherheit, sondern Menschen ausgeliefert.
In der Reformationszeit war es auch so, daß es immer mehr neue Taten gab, die eindeutig gut erschienen, und die mit der Meinung propagiert wurden: Tu das, dann kommst du näher zu Gott! Tu das, dann wird Gott dir vergeben! Werde Mönch! Faste! Pilgere zu einem Heiligen Ort! Bete viele abgezählte Gebete! Werde außergewöhnlich, daß andere dich bewundern!
Liebe Gemeinde: An sich kann das alles harmlos sein. Doch es wird zu einem großen Problem, wenn damit gesagt wird: Das macht dich zu einem Christen. So wirst Du ein Kind Gottes. Das macht ein Christ, das beweist dir selbst und anderen, daß Du ein Kind Gottes bist.
Da ist Christus draußen, da ist der Glaube draußen, da ist die Freiheit weg.
Was bleibt, ist ein Gewissen, das sich an Menschen gebunden hat, und niemals frei werden wird. Es wird vielleicht Applaus von Menschen bekommen, aber dieser Applaus bringt nicht die Freiheit, die Gott seinen Kindern zugedacht hat.
„Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen.“ Das ist ein brutaler Satz. Da steigern sich Menschen in die Religion hinein. Tun alles Mögliche. Aber sie haben Christus verloren, und sind aus der Gnade gefallen. Und wer aus der Gnade gefallen ist, der geht Gott auf den Geist und strapaziert Gottes Geduld. Denn Gott wartet darauf, und besteht darauf, daß wir Seine Gnade annehmen, Seine Vergebung, Seine Freiheit – die wir ohne ihn nicht eben nicht haben können.
Was aber tut ein Christ?
„Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muß.“ Christen sind Empfangende, oder wie Jesus sagt: Geistlich arm. (Matthäus 5, 3). Christen sagen: Christus ist meine Freiheit. Das ist alles, was mich interessiert. Ihr Beschneidungsprediger kommt einfach zu spät. Ich bin schon frei. Ich bin frei mit Gott. So frei könnt ihr mich gar nicht machen. Die größte Freiheit ist: Gott vergibt mir. Danach kommt die Auferstehung von den Toten. Wird die Beschneidung mir die Auferstehung geben? Nein? Dann laßt mich in Ruhe. Ich warte jetzt nur noch auf die Auferstehung der Toten – so heißt es doch im Glaubensbekenntnis: „Eine christliche Kirche, Vergebung der Sünden … und dann? Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben.“
Und heute? Schwierige Frage. Wir dürfen nicht vergessen: Es ist normal, wenn Menschen nach etwas suchen, was so eindeutig gut und richtig und anerkannt ist, daß man glauben kann: Wenn ich das nicht tue, dann bin ich noch nicht ein Christ, oder kein guter Mensch. Oder man beurteilt andere danach. Es ist normal, wenn Menschen ankommen und sich heimlich ärgern, wenn ein Christ glücklich ist, weil Gott ihm vergeben hat. Der Teufel mag es einfach nicht, wenn ein Gewissen die Freiheit Gottes hat.
Zu Paulus Zeiten war es die Beschneidung, zu Luthers Zeiten war es unter anderem das Mönchtum als perfektes Leben, das keine Vergebung brauchte. Heute? Gibt es nicht auch Dinge, die so fraglos gut sind, daß, wenn man sie nicht hat, oder bekennt, kein guter Mensch oder Christ sein kann? – Und wenn er Fragen hat, sofort mit Zorn rechnen muß? Muß man nicht ununterbrochen beweisen, daß man „tolerant“ ist? Muß man nicht ständig beweisen, daß man „politisch aktuell“ ist? Wird man nicht in einer übertriebenen Weise danach eingeteilt oder beurteilt, wie man sich zur Zeit in der Corona-Krise verhält? Wo ist Christus? Wo ist Gottes Freiheit? Wo ist das 100%ig friedliche Gewissen, das auf die Auferstehung wartet? Wo ist die Gelassenheit, die Gott das letzte Urteil überläßt?
Ein Christ muß sagen können: Ihr Beschneidungsprediger, die ihr diese oder jene Frage höher setzt als den Glauben an das, was Christus in göttlicher Freiheit für uns getan hat – ihr kommt zu spät. Ich gehöre schon Christus, und nicht euch.
Ja. Und dann wird die Phantasie von Menschen ja erst recht wild: Man denkt, wer so spricht, der will jedem schaden, und alle Gebote Gottes übertreten. Nichts da! Paulus schreibt:
„Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“ Paulus will, daß die Christen in Galatien innerlich völlig frei und unbeeindruckt und ohne Panik wegen der Beschneidung sind. Sie muß ihnen egal sein. Paulus stellt sie ganz unter Gottes Urteil und befreit sie von menschlichen Urteilen. Das Ziel dieser Freiheit – bis zur Auferstehung des Fleisches jedenfalls – ist die Liebe. Aber eben jene Liebe, die aus der Freiheit des Glaubens kommt. Nicht aus Angst, nicht aus Zwang, nicht aus Furcht vor Menschen, nicht aus Furcht vor Verurteilung oder Ausgrenzung. Das ist keine Liebe, auch, wenn sie 1000mal so aussieht. In Christus war Gott so frei, uns zu lieben. Aus dieser Freiheit kommt christliche Liebe. Aber die Freiheit muß da sein. Gott schenkt sie uns in der Taufe, in der Beichte, im Hören auf sein Wort, im Abendmahl. Da wird der neue Mensch geschaffen. Alle anderen müssen wir enttäuschen, sie kommen zu spät.

Der Friede Gottes, welcher höher ist, als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Beitragsbild:

Reformationsaltar Wittenberger Stadtkirche
Lucas Cranach der Ältere und Lucas Cranach der Jüngere zwischen 1547 und 1548
Datei:Luther-Predigt-LC-WB.jpg – Wikipedia