10. Sonntag nach Trinitatis

Von | August 21, 2022

Gnade sei mit euch und Friede,
von Gott, dem Vater,
und dem HERRN, Jesus Christus. Amen.

1 Gedenke, HERR, wie es uns geht; schau und sieh an unsre Schmach!
2 Unser Erbe ist den Fremden zuteilgeworden und unsre Häuser den Ausländern.
3 Wir sind Waisen und haben keinen Vater; unsre Mütter sind wie Witwen.
4 Unser Wasser müssen wir um Geld trinken; unser eigenes Holz müssen wir bezahlen.
5 Mit dem Joch auf unserm Hals treibt man uns, und wenn wir auch müde sind, läßt man uns doch keine Ruhe.
6 Wir mußten Ägypten und Assur die Hand hinhalten, um uns an Brot zu sättigen.
7 Unsre Väter haben gesündigt und leben nicht mehr, wir aber müssen ihre Schuld tragen.
8 Knechte herrschen über uns und niemand ist da, der uns von ihrer Hand errettet.
9 Wir müssen unser Brot unter Gefahr für unser Leben holen, bedroht von dem Schwert in der Wüste.
10 Unsre Haut ist verbrannt wie in einem Ofen von dem schrecklichen Hunger.
11 Sie haben die Frauen in Zion geschändet und die Jungfrauen in den Städten Judas.
12 Fürsten wurden von ihnen gehenkt, und die Alten hat man nicht geehrt.
13 Jünglinge mußten Mühlsteine tragen und Knaben beim Holztragen straucheln.
14 Es sitzen die Ältesten nicht mehr im Tor und die Jünglinge nicht mehr beim Saitenspiel.
15 Unsres Herzens Freude hat ein Ende, unser Reigen ist in Wehklagen verkehrt.
16 Die Krone ist von unserm Haupt gefallen. O weh, daß wir so gesündigt haben!
17 Darum ist auch unser Herz krank, und unsre Augen sind trübe geworden
18 um des Berges Zion willen, weil er so wüst liegt, daß die Füchse darüber laufen.
19 Aber du, HERR, der du ewiglich bleibst und dein Thron von Geschlecht zu Geschlecht,
20 warum willst du uns so ganz vergessen und uns lebenslang so ganz verlassen?
21 Bringe uns, HERR, zu dir zurück, daß wir wieder heimkommen; erneure unsre Tage wie vor alters!
22 Hast du uns denn ganz verworfen, und bist du allzu sehr über uns erzürnt?

Klagelieder 5, 1-22

O Gott, laß uns nicht vergeblich hören, was Du sagst. Amen.

Liebe Gemeinde!
Die Christenheit gedenkt der Zerstörung der Stadt Jerusalem und des Tempels im Jahre 70 nach Christus durch die Römer, weil Jesus diese Zerstörung prophezeit hat. In der letzten Woche seines Lebens, am Palmsonntag, nach seinem Einzug als König in die Heilige Stadt, weinte Jesus über Jerusalem.
Jesus, der Sohn Gottes, weinte. (Lukas 19, 41).
Er weinte, weil die Stadt Jerusalem an dem Tag, als er als Messias öffentlich einzog, nicht erkannte, was zum Frieden dient. (Lukas 19, 42).
Damit meinte Jesus sich selbst. Er ist der Friede für Jerusalem. Er erfüllt das Gesetz, Er bringt das eine Opfer – das bringt Frieden mit Gott. Er schafft Frieden zwischen allen Stämmen Israels, die seit Jahrhunderten getrennt und zerstritten waren; er schafft Frieden zwischen Israel und den Samaritern, und schließlich bringt Jesus die Grundlage für Frieden zwischen Israel und allen Völkern. Ich spreche jetzt von dem Israel, zu dem Jesus im Jahre 30 kam.
Jesus weinte, weil Jerusalem ihn ablehnte. Und nicht nur ablehnte, sondern auch verurteilte und schuldig sprach. Und nicht nur schuldig sprach, sondern auch den heidnischen, feindlichen und gottlosen Römern auslieferte und auf die schrecklichste Todesstrafe bestand. Und nicht nur das, sondern ihn auch am Kreuz verhöhnte: „Bist du Gottes Sohn, so steige herab vom Kreuz, dann wollen wir dir glauben!“ (Matthäus 27, 40) Aber nicht nur verspottete, sondern auch sein Grab versiegeln und bewachen ließ, damit Seine Geschichte auf jeden Fall im Grab endete. Gründlicher und umfassender konnte ein Mensch, ein Lehrer, ein Prophet in Israel nicht abgelehnt und verworfen werden.
Jesus weint aber nicht als ein Opfer, aus Selbstmitleid.
Jesus weint, weil er das Ende Jerusalem kommen sieht.
Jesus weint, weil die Treue Gottes, die Zuverlässigkeit Gottes, mit der Gott Seine Verheißungen wahrmacht – in Israel, nirgends sonst! – ins Leere geht.
Jesus weint über Sein Volk, Seine Verwandten, denn er sieht das Ende kommen: „Denn es wird die Zeit kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, und werden dich den Erdboden gleichmachen, samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir.“ (Lukas 19, 42-43).
Vierzig Jahre später war es soweit. Die Römer kamen unter Titus und nach äußerst schweren und blutigen Kämpfen wurde die Stadt erobert und zerstört, der Tempel ausgeraubt und verbrannt.
Jesus weint darüber. Er weint vor allem deshalb, weil der Grund so unnötig ist: „ Weil du nicht die Zeit erkannt hast, in der du besucht worden bist.“ Eine, DIE entscheidende Erkenntnis hat gefehlt. Die Erkenntnis, daß Gott mit diesem Jesus alles wahrmacht, was Er seinem Volk zugesagt und versprochen hat.
Wie gesagt, das war nicht nur ein Ignorieren, oder ein Mißverstehen, sondern, wie ich eben aus dem Evangelium gezeigt habe, eine bewußte und gründliche Verwerfung.
Jesus weint, weil diese Menschen, die Gott ja in erster Linie angesprochen und gemeint hat, so ganz daneben liegen. Mit Überzeugung irren.
Normalerweise weint ein Mensch, wenn er überwältigt und machtlos ist. Ist Jesus ein machtloser Sohn Gottes, ein König ohne Macht?
Die Macht, mit der Jesus das Volk Israel neu sammelt, ist die Gnade. Die Vergebung. Die Einladung. Ohne Zwang und ohne Überwältigung. Jesus hat überdeutlich klar gemacht, daß kein Sünder sich vor ihm schämen muß.
Und dann das.
Paulus hat auch über sein Volk, das Volk Israel geweint, aus genau demselben Grund: Weil es Jesus nicht erkannt und angenommen hat. (Römer 9,2).
Und wenn der Sohn Gottes und ein Apostel weinen, dann, weil es einen Grund gibt. Weil etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Es ist nicht in Ordnung und erschreckend traurig, daß Jesus von seinem Volk nicht angenommen wird.
Diese Tränen sind heilig. Wir Christen dürfen niemals tun, als wären sich nicht vergossen worden, wir dürfen schon gar nicht so reden, als wären sie ohne Grund vergossen worden. Daß Israel seinen Messias Jesus Christus ablehnt, wird für Christen niemals eine Normalität werden, genauso, wie die Tränen Jesu und Paulus‘ niemals nebensächlich sein können für uns Christen.
Die Christenheit gedenkt dieser Zerstörung erstens, weil Jesus sie prophezeit hat, aber auch zweitens, weil wir Christen mit Ehrfurcht Gottes Ernst daran sehen. Es gibt bei Gott kein Ansehen der Person. Paulus sagt: Ich habe es als Israelit so weit gebracht, wie man es überhaupt bringen kann. Aber das hat mir nicht geholfen, Jesus zu erkennen. Ja, es hat mich dazu gebracht, die Christen zu verfolgen. Damit Pech für meine Leistungen. Paulus sagt nicht „Pech“, sondern: „Ich halte es für Dreck.“ (Philipper 3, 8) – Und doch weint er über seine leibliche Verwandtschaft, denen Gott alles als ersten zugedacht hat.

Liebe Gemeinde.
Die Tränen Jesus und des Paulus sagen und mehr und haben uns mehr zu sagen als alle menschlichen Instanzen. Vor allem mehr zu sagen, als politische Stimmen. Ein jeder denke zur rechten Zeit genau nach!

Man hat für den heutigen Sonntag Worte aus den Klageliedern des Propheten Jeremia gewählt. Die Klagelieder waren die Klage über die Zerstörung des Ersten Tempels in Jerusalem. Das war – übrigens genau an demselben Tag! – im Jahr 589 vor Christus.
Es ist eine ergreifende Klage. Die Klage eines besiegten Volkes. Eine Klage darüber, wie jede Gabe Gottes zerstört, oder in Frage gestellt oder angegriffen wird. Denn die Babylonier wollten mit ihrem militärischen Sieg über Israel ja auch der ganzen Welt beweisen: Der Gott Israels ist nichts. Der Gott der Bibel ist machtlos, es lohnt sich nicht, ihm zu glauben. Hören wir diese Klage. Jede Aussage spricht von einer Gabe und Ordnung Gottes, die leidet:
„1 Gedenke, HERR, wie es uns geht; schau und sieh an unsre Schmach!
2 Unser Erbe ist den Fremden zuteilgeworden und unsre Häuser den Ausländern.
3 Wir sind Waisen und haben keinen Vater; unsre Mütter sind wie Witwen.
4 Unser Wasser müssen wir um Geld trinken; unser eigenes Holz müssen wir bezahlen.
5 Mit dem Joch auf unserm Hals treibt man uns, und wenn wir auch müde sind, läßt man uns doch keine Ruhe.
6 Wir mußten Ägypten und Assur die Hand hinhalten, um uns an Brot zu sättigen.
7 Unsre Väter haben gesündigt und leben nicht mehr, wir aber müssen ihre Schuld tragen.
8 Knechte herrschen über uns und niemand ist da, der uns von ihrer Hand errettet.
9 Wir müssen unser Brot unter Gefahr für unser Leben holen, bedroht von dem Schwert in der Wüste.
10 Unsre Haut ist verbrannt wie in einem Ofen von dem schrecklichen Hunger.
11 Sie haben die Frauen in Zion geschändet und die Jungfrauen in den Städten Judas.
12 Fürsten wurden von ihnen gehenkt, und die Alten hat man nicht geehrt.
13 Jünglinge mußten Mühlsteine tragen und Knaben beim Holztragen straucheln.
14 Es sitzen die Ältesten nicht mehr im Tor und die Jünglinge nicht mehr beim Saitenspiel.
15 Unsres Herzens Freude hat ein Ende, unser Reigen ist in Wehklagen verkehrt.“

Schwere, wichtige Worte!
Es sind Gebete. Es gibt auch zu unserer Zeit Grund zur Klage, weil Gottes Gaben und Ordnungen bewußt angegriffen werden, oder achtlos aufgegeben.
Aber beten wir? Bringen wir sie vor Gott? Trauen wir uns, vor Gott zu klagen?
Aber die größten Worte folgen erst:
„16 Die Krone ist von unserm Haupt gefallen. O weh, daß wir so gesündigt haben!
17 Darum ist auch unser Herz krank, und unsre Augen sind trübe geworden.“
Das ist die eigentliche Klage: O weh, daß wir so gesündigt haben! Die ganze Zerstörung bei mir an! Und die Heilung muß Gott deshalb auch in mir beginnen! Wenn es Heilung geben soll, dann so! Allerdings sind dies Worte vor Gott, und nicht vor Menschen. Dieses Schuldbekenntnis gehört Gott allein.
Jesus, der Gekreuzigte und Auferstandene, steht dafür, daß dieses Schuldbekenntnis uns bei Gott in Sicherheit bringt.

Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus zum Ewigen Leben. Amen.


Beitragsbild:

David Roberts‘ „Die Belagerung und Zerstörung Jerusalems durch die Römer unter dem Kommando von Titus, 70 n. Chr.“
David Roberts (1796–1864) , um 1850 n. Chr.