Karfreitag

Von | April 5, 2021
Kreuzigungstriptychon, Rogier van der Weyden, 1445

Das Lamm, das geschlachtet ist,
ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum
und Weisheit und Stärke
und Ehe und Preis und Lob.
Die Gnade unseres HERRN Jesus Christus
und die Liebe Gottes,
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
sei mit euch allen.
Amen.

13 Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein.
14 Wie sich viele über ihn entsetzten, weil seine Gestalt häßlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder,
15 so wird er viele Heiden besprengen, daß auch Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn denen nichts davon verkündet ist, die werden es nun sehen, und die nichts davon gehört haben, die werden es merken.
53, 1 Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des HERRN offenbart?
2 Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.
3 Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
4 Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.
5 Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen.
Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
6 Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn.
7 Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.
8 Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volks geplagt war.
9 Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist.
10 So wollte ihn der HERR zerschlagen mit Krankheit. Wenn er
sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des HERRN Plan wird durch seine Hand gelingen.
11 Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden.
12 Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben, dafür daß er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.

Jesaja 52 und 53

Christe, Du Lamm Gottes, der Du trägst die Sünd‘ der Welt, erbarm Dich unser! Amen.

Liebe Gemeinde!

„Christus ist zu öffentlich gestorben ….“ notiert der spätere Literaturnobelpreisträger Elias Canetti im September 1942.
Zu öffentlich. Man kann ihn also nicht mehr wegdenken oder verbergen. Es ist unmöglich, Ihn und Seine Wirkung aus dem Weltgeschehen herauszuziehen. Eine Welt, in der Jesus nicht erschienen und gekreuzigt worden wäre, ist nicht vorstellbar.
Selbst die Unterhaltungsindustrie, die mit großem Aufwand das Bild einer Welt ohne Gott propagiert, kommt nicht umhin, Christen vorkommen zu lassen, wenn auch oft als Karikatur.
„Stat crux dum volvitur orbis“ – Das Kreuz steht, die Welt dreht. – Solange, oder auch während. –
„Zu öffentlich …“ Der Hohe Rat des Volkes Israel, der den Tod beschlossen hatte, wollte das Fest vermeiden – die Öffentlichkeit wäre zu groß gewesen, und wer weiß, wie die Masse reagiert? Man wollte Unruhe vermeiden. Auch der Verräter Judas hatte sich vorgenommen, Jesus „ohne Aufsehen“ zu verraten.
Es kam anders: Jesus wurde während des Passafestes, als die Stadt randvoll von Gästen aus aller Welt war, draußen vor der Stadt, wo jeder sehen konnte, was da passierte. Und alle Welt konnte lesen, wer da hing: „Jesus von Nazareth, der Juden König“. In hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. (Johannes 19, 19-20). Sprachen, die von Spanien bis Persien, von Britannien bis Ägypten verstanden wurden. – Jetzt wußten es alle: Der König der Juden wurde gekreuzigt. Die Hohenpriester kommen in alle Ewigkeit zu spät zu Pilatus. Er nimmt es nicht zurück; die Welt soll es wissen: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“ (Johannes 19, 22).
„Zu öffentlich …“ In der Hauptstadt Israels, wo Juden aus aller Welt zusammenkamen; unter Pontius Pilatus, dem direkten Repräsentanten des damaligen Weltreichs Rom. Rom und Israel – beide hatten hochentwickelte Informationsnetzwerke und Archive. Beide waren auf ihre Weise Fanatiker der Klarheit, der Deutlichkeit, der Eindeutigkeit. In dieser grellen, überhellen Öffentlichkeit wurde Jesus gekreuzigt. Jeder konnte und kann es wissen. Auch wenn man es nicht mag, oder sich drüber ärgert: Jesus ist zu öffentlich gekreuzigt worden.
Gott wollte es so. Gott will, daß die Menschen das sehen und wissen. Menschen allein könnten diese einmalige Öffentlichkeit nicht schaffen, und auch nicht über bald 2000 Jahre ungebrochen aufrechthalten.
Die Weissagung des Jesaja zeigt uns das.
Gott spricht von seinem Knecht: „Ihm wird es gelingen“ – er wird alles richtig machen. Nicht für sich selbst, sondern als Knecht Gottes wird er seinen Auftrag restlos und vollständig erfüllen. Alles wird stimmen. Kein Mensch wird einen Fehler finden können, egal, wie groß die Öffentlichkeit ist.
„Er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein.“ – Er wird allen sichtbar sein, kein Wort, keine Tat wird verborgen sein. Alles kann überprüft werden. Er wurde ans Kreuz erhöht vor den Augen der Welt. Doch „Gott hat ihm auch einen Namen gegeben, der über alle Namen ist.“ (Philipper 2, 9) Andere Namen waren groß und sind heute vergessen. Das muß jeder zugeben.
„Wie sich viele über ihn entsetzten, weil seine Gestalt häßlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder“ – man alles getan, ihn vor den Augen der Welt zu diskreditieren, zu denunzieren, zu canceln, zu widerlegen. Das Bild des leidenden Knechtes war und ist nicht anziehend, es erfüllt unsere Ideale nicht. Man muß erschrecken, sich abwenden.
„So wird er viele Heiden besprengen, daß auch Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn denen nichts davon verkündet ist, die werden es nun sehen, und die nichts davon gehört haben, die werden es merken.“ – Trotzdem ist es nicht aufzuhalten, daß Menschen davon angesprochen, ja angezogen, werden. Die Mission kann davon erzählen. Menschen, die nie mit Jesus zu tun hatten, werden von ihm angezogen, träumen von ihm. Sein Bild läßt sie nicht los. Nicht nur Loser, sondern auch Könige haben, und werden vor ihm schweigen, weil sie überwältigt sind von seinem Leiden, und seinem Gehorsam und seiner Liebe. Von dem Kreuz, dem Bild der Ohnmacht, geht eine Macht aus. Auch Menschen, „denen nichts davon verkündet ist, die werden es nun sehen, und die nichts davon gehört haben, die werden es merken.“ Das tut Gott allein. Wie sollen Menschen das erreichen oder erzwingen?
Der Prophet Jesaja spricht davon: Menschenworte allein sind nicht in der Lage, den Glauben zu schaffen:
„Wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des HERRN offenbart?“ – Wer merkt, daß Gott da am Werk ist? Wie soll ein Mensch darauf kommen, daß solch schändliches Leiden für irgendwas gut sein kann? Wer glaubt der Predigt über ihn? Nicht jeder! Menschen können den Glauben an den Gekreuzigten nicht schaffen; diesen Glauben jedenfalls nicht!
„Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.
Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.“ –
Man sah es ihm nicht an, was er war. Seine Familie war arm und bescheiden. Ohne Glauben ist bei ihm nichts zu holen. Er macht nicht reich, er bietet keine Beteiligung an Macht oder Geschäft. Im Gegenteil! Nur wer an ihn glaubt, hat etwas von ihm. Die anderen ignorieren ihn. Wer Macht und Reichtum begehrt, kann ihn nur verachten.
„Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre.“
Doch wir sollen nicht nach dem Augenschein urteilen. Wir sollen hören. Sonst weiß kein Mensch, was da los ist. Hat Gott diese große Weltöffentlichkeit herbeigeführt, um etwas zu zeigen, was die Menschheit sowieso schon kennt: Leiden und Unrecht? – Nein! Die Predigt schafft eine neue Gemeinschaft der Hörer: Es geht um uns. Er trug unsere Krankheit. Die Menschheit denkt: Wenn er es leiden mußte, hat er es wohl verdient. Gott hat ihn geschlagen. Doch wir hören von Jesaja:
„Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen.
Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“
Die Wunden sind nicht sein Ende, sondern unser Anfang. Nicht sein Unglück, sondern unsere Chance. Darum leidet der Knecht so öffentlich: Alle sollen es wissen. Er tut es für sie, für uns.
„Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn.“
Die Menschen glauben fest, daß sie ihrer Schuld entfliehen können. Daß Gras darüber wachsen kann. Daß man sich aus allem herausreden könnte. Wir laufen irgendwo hin, wo wir meinen, daß wir vor der Anklage der 10 Gebote sicher sind. Jeder sieht, wo er bleibt. Doch der Knecht Gottes hält stille, er weicht nicht aus. Darum trifft es ihn. Weil er sich fangen läßt, „wirft der HERR unser aller Sünde auf ihn.“ Er kriegt die Rechnung von allen und bezahlt.
„Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.“
Er tut es ohne Protest. Das mußten auf Golgatha sogar seine Folterer zugeben: Der Hauptmann, und die Soldaten sagten: „Dies war ein Gerechter, der Sohn Gottes.“ (Lukas 23, 47; Matthäus 27, 54). Jesus wird nicht dazu gezwungen, sondern es ist Liebe. Die ganze Welt kann und soll es wissen. Was die Worte des Jesaja über 500 Jahre vorher angekündigt haben, das haben die Augenzeugen auch gesehen und bezeugt. Die Welt soll es wissen: Hier am Kreuz ist die Liebe größer. Sie muß sehr groß sein, wenn sie größer ist, als das Unrecht und das Leiden.
„Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volks geplagt war. Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist.“
Sein Tod war nur Leiden und Schmach und Schande. In den Augen der Welt war er ein Widerlegter, ein Schuldiger, ein Verdammter, den man vergessen konnte. Mit den Verbrechern und Bösewichten sollte sein Name vergessen werden, sein Andenken ausgelöscht werden. – Doch wem hat er geschadet? Wen hat er betrogen?
„So wollte ihn der HERR zerschlagen mit Krankheit. Wenn er
sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des HERRN Plan wird durch seine Hand gelingen.“
Die Worte des Propheten offenbaren allen, die es hören: Hier hat Gott gehandelt. Nicht Pilatus, nicht die Soldaten, sondern der HERR, der Dreieinige Gott wollte das. Darauf kann kein Mensch von sich aus kommen.
Doch der Knecht geht den Weg im Blick auf eine große Zukunft. Er wird Anhänger haben, und Gott selbst wird ihm diese Anhänger verschaffen. Genau so wenig, wie der Gekreuzigte wegzudenken ist, so kann man die Christenheit, die Kirche auch nicht aus der Welt abziehen. Sie ist zu öffentlich, zu sehr da. Das ist der Plan des HERRN. Die erste Verbreitung durchs römische Reich geschah ohne Waffen und ohne Geld. Unter Verfolgung und Verleumdung. Aber die Kirche wuchs.
„Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden.“
Es war vor allem ein seelisches Leiden. Eine Schmach, eine Enttäuschung, Einsamkeit, Demütigung, Verspottung.
Doch der Knecht wir das Licht schauen und die Fülle haben. Jesus ist aus all diesem Leiden auferstanden. Gott hat ihm alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben.
Und wer das alles erkennt, der kommt bei Gott gut an. So schafft der Knecht Gottes vielen Gerechtigkeit. Denn wer das erkennt, der erkennt auch, daß sicher nicht auf Jesu Seite gewesen wäre. Auch an mir hat Jesus zu tragen.
„Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben, dafür daß er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.“
Hunderte Millionen haben unter dem Kreuz ihre Herzen geöffnet, sind zum Nachdenken gekommen, haben neu nach Gott gefragt und Trost gefunden. Das ist schon passiert. Gott hat sie Seinem Sohn zur Beute gegeben, gerade auch die Starken, die scheinbar niemanden brauchen, haben sich zu ihm bekannt und bekennen sich zu ihm. Und er hat für die Übeltäter gebeten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lukas 23,34).
Diese Worte des Jesajas, über 500 Jahre vor Christus gesprochen, schaffen eine Öffentlichkeit, die noch größer ist. Denn das können Menschen nicht schaffen. Das ist eine göttliche Sache. Wenn wir Jesaja hören, und Jesus am Kreuz vor uns haben, dann begegnen wir Gott. Die Öffentlichkeit ist so groß, daß wir ihr nicht ausweichen können. Warum auch?
Vielleicht hat der Autor deshalb geschrieben: Christus sei „ZU öffentlich gestorben,“ weil er Gott lieber nicht begegnen wollte. Damit hat er zugegeben, daß Gott im Kreuz da war und da ist.
Amen.

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