8. Sonntag nach Trinitatis

Von | September 19, 2020
Duccio di Buoninsegna ca. 1255 – 1319 Die Heilung eines Blinden

Gnade sei mit euch und Friede
von Gott, unserem Vater,
und dem HERRN, Jesus Christus.
Amen.

Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war.
Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren ist?
Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.
Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.
Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.
Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden.
Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.
Gebet: HERR, sende Dein Licht und Deine Wahrheit, daß sie und leiten auf den Weg des Lebens. Amen.

Johannes 9, 1-17

Liebe Gemeinde!

Wie muß es sein: Blind geboren? Nicht nur kein Licht sehen, sondern auch kein Begriff von Licht zu haben? Alle um mich herum bewegen sich in der Wirklichkeit, sprechen über die sichtbare Welt. Und ich kann zwar hören und tasten – aber ich weiß alles nur vom Hören-Sagen. Der Blindgeborene bettelt. Das ist seine Existenz – er bettelt nicht nur um Geld zum Leben, er muß auch um Wissen betteln. Sicher, er fühlt und erfährt, ertastet vieles – vielleicht sogar intensiver, als die, die das Augenlicht haben. Aber ohne Erklärungen, Umschreibungen kann er sich überhaupt nicht zurechtfinden. Was er mit der Information anfängt, kann er niemals selbständig mit der Wirklichkeit vergleichen. Jeder, der sehen kann, kann ihn betrügen – er kann keine Gefahr sehen, die auf ihn zukommt – er weiß auch nicht, wie er selber aussieht, wie überhaupt ein Mensch aussieht … Ein schweres Schicksal. Gottes Wort nennt daher Menschen, die verloren sind und Gottes Hilfe dringend brauchen: Sie sitzen in der Finsternis (Matthäus 4, 16) – der Prophet Jesaja sagt, daß das Volk „im Finstern wandelt“, daß „Finsternis das Erdreich bedeckt und Dunkel die Völker bedeckt“ (Jesaja 60, 2).
Die Jünger sprechen dann die Frage aller Fragen aus – die „Warum?“-Frage. „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren ist?“ Das ist die Warum-Frage in der Sprache ihrer Zeit. Im Gesetz des Mose heißt es – wir kennen es aus dem Katechismus (S. 1265 „Was sagt nun Gott von diesen Geboten allen?“): „Ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen,

aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.“ Hier hören wir einen von einem klaren Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen. Gott läßt spürbare Folgen zu für Sünden – drei bis vier Generationen. Und Segen für das Halten von Geboten – tausend Generationen. Das allein wäre schon eine ganze Predigt! – Die Jünger wollen verstehen, was da passiert. Der arme Blindgeborene trägt ein schweres Leiden. Warum? Hat er gesündigt? Hat er etwas getan, das diese Strafe verdient? – Aber wann? Vor der Geburt? Oder haben seine Eltern sich schuldig gemacht? – Warum muß er dann leiden für etwas, was er nicht getan hat?
Liebe Gemeinde, die Warum-Frage ist sowas von verständlich. Jeder Mensch versteht sie. Das Buch Hiob im Alten Testament stellt sie mit unübertroffener Dringlichkeit.
Was sagt Jesus? Er beantwortet die Frage nicht so, wie sie gestellt ist. Er kommt mit keiner Erklärung oder Begründung aus der Vergangenheit. – Und wir Menschen könnten nur mit einer Ursache aus der Vergangenheit kommen. Denn eine Wirkung kommt erst nach einer Ursache.
„Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“
Das ist eine Antwort, die nur Jesus geben kann. Wenn irgendein anderer Mensch sie ausgesprochen hätte, dann wäre sie eine Anmaßung oder Betrug gewesen. Denn Jesus hebt den Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen, zwischen Leiden und Strafe auf. Er sagt sinngemäß zu dem Blindgeborenen: „Das hast Du nicht verdient!“ Das bedeutet: „Es gibt keinen Grund in der Vergangenheit, daß Du mit Blindheit geschlagen bist!“ – „Es muß nicht sein!“ – Wie gesagt, wenn Du oder ich so etwas sagen würden, dann wäre das Anmaßung oder Betrug. Anmaßung, denn: Wie kann ich es beweisen? Oder Betrug: Ich mache dem Blindgeborenen eine Hoffnung, die ich nicht erfüllen kann.
Der Grund, sagt Jesus, ist: „Daß die Werke Gottes an ihm offenbar werden“. An ihm soll für uns Menschen deutlich und erkennbar, ja sichtbar werden, was Gott tut, wie Gott handelt. An diesem armen Menschen soll eindeutig Gott sichtbar werden – er soll ein Gottesbeweis werden.
Das kann nur der Sohn Gottes sagen.
Die Antwort Jesu ist nicht übertragbar. Sie ist keine Philosophie, kein Programm, keine Methode, die man von der Person absondern kann. Wenn ich ein Rezept habe, dann kann ich, wenn ich gut genug bin, ohne Hilfe selbst ein Brot backen. Ich kann dann immer noch sagen: Es ist das Rezept meiner Mutter; aber meine Mutter muß nicht neben mir in der Küche stehen. Jesu Antwort ist kein Rezept. Er sagt nicht: Leute, Schuld und Leiden, Sünde und Strafe gibt es nicht! Im Grunde sagt er: Ihr stellt die Warum-Frage, und weiter kommt ihr nicht. Ihr werdet keine Antwort finden: ICH BIN die Antwort.
An einer anderen Stelle antwortet Jesus ähnlich. Man kam aufgeregt zu ihm und berichtete, wie die Römer im Tempel galiläische Pilger getötet hatten. „Warum?!?“ – Auch hier antwortet Jesus nicht im Sinne der Frage. „Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meint ihr, daß diese Galiläer mehr gesündigt haben als alle andern Galiläer, weil sie das erlitten haben? Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen.“ (Lukas 13, 2-3) Auch hier spricht das „ICH“ des Gottessohnes. Eine theoretische Antwort, die das erklärt, was passiert ist, wird euch nicht helfen. Glaubt an mich. Kommt zurück zu Gott.
Zurück zu unserer Geschichte. Jesus kommt als Gottes Antwort zu dem Blindgeborenen. Gottes Werk – Gottes heilendes Werk soll an ihm offenbar werden.
Jesus unterstreicht diese Bindung an seine Person und sagt: „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.“ Wo Jesus ist da ist es Tag. Wo es Tag ist, da kann gehandelt werden. Das ist eine begrenzte Zeit. Ein Rezept, eine Philosophie, ein Prinzip, eine Theorie ist zeitlos. Sie gilt immer. Ein Tag, wie eine Person, ist zeitlich begrenzt. Man kann der Person begegnen, oder sie verpassen. Darum ist die Begegnung mit der Person „Jesus“ immer eine besondere Zeit, immer eine Zeit, in der die eigene Sünde oder die Sünde der Eltern mich nicht festlegen, sondern die Werke Gottes geschehen.
Wo Jesus nicht begegnet wird, da ist die Nacht, da niemand wirken kann, da werden wir durch die eigene Sünde und die Sünde der Eltern definiert. Da wird’s dann dunkel.
„Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“ Das kann natürlich nur Jesus sagen. Mit ihm wird alles hell. Vor allem die Werke Gottes. Im Dunkeln kann man nichts unterscheiden, man weiß nicht, woher es kommt, man kann es nicht zuordnen. Bei Tag ist das anders. Bei Tag kann ich mich dem Guten nähern, und dem Bösen fliehen. Wo Licht ist, da ist diese Freiheit. Jesus bringt diese Freiheit.
Kommen wir zu dem Blindgeborenen. Wie soll er frei werden, wenn er die Freiheit doch gar nicht kennt. Jesus, das Licht der Welt, der Sohn Gottes, kommt zu ihm in die Finsternis. Er spuckt hörbar auf die Erde. Er schmiert den Brei auf die Augen des Blinden. „Du bist gemeint“, heißt das. Und zwar meine ich dich an deiner schwächsten, peinlichsten, traurigsten, kaputtesten Stelle. Und dann schickt Jesus ihn hin, zum Teich Siloah. Der Blinde sieht den Teich nicht, aber er kann sich durchfragen. Und waschen kann er sich auch. Und das Wunder geschieht. Er ist im Licht. Das Licht der Welt hat ihn erreicht und erleuchtet.
Der Evangelist Johannes merkt an, daß der Name des Teichs: „Gesandt!“ bedeutet. Damit wird deutlich: Es war nicht der Brei, es war nicht das Wasser – sondern es war die Sendung, die den Unterschied gemacht hat. Sendung – gesandt sein- das ist etwas zwischen Personen. Eine Person sendet eine andere. Gott der Vater hat Jesus gesandt, Jesus sendet den Blindgeborenen. Der Blindgeborene glaubt und gehorcht. Und das Licht ist da.
Liebe Gemeinde was sagt uns das? Wie können wir in denselben Tag, in dasselbe Licht eintreten, wie der Blindgeborene?

  1. Die Einsicht, daß wir Licht brauchen. Erkennen wir die Werke Gottes, sind sie uns offenbar, eindeutig? Von Geburt her: Nein. Wir sind blind für die Liebe Gottes in seinen Gaben. Wir sind blind für die Gefahr, die wir uns und anderen durch die Sünde bereiten. Unsere Augen und Ohren sind von Egoismus und Begehren geplagt und geblendet. Wir sind Blindgeborene. Wie der bettelnde Blindgeborene haben wir alles nur aus zweiter oder dritter Hand. Was Liebe ist, was Wahrheit ist, was Gott tut – wir hören davon, wie ein Blinder von der Farbe. Es könnte direkt vor unserer Nase sein, und wir merken es nicht. Wir haben keine Möglichkeit, unsere Gedanken mit Gottes Wirklichkeit zu vergleichen. Wir wissen nicht, ob wir uns täuschen. Wir ahnen nicht, ob wir uns dem Guten nähern und von dem Bösen entfernen. Vor unseren Mitmenschen wollen wir das nicht zugeben. Aber vor Gott sind wir Bettler – doch er will uns beschenken!
  2. Das Licht der Welt ist zu uns gekommen. Das Evangelium von Jesus Christus bringt uns dieses Licht. Doch dieses Licht kommt zu uns in unsere Finsternis. Jesus nimmt Irdisches, und macht eine Sendung, eine Mission daraus. Er wird Mensch. Er spricht menschliche Worte. Er setzt die Taufe ein. Er ruft, daß wir uns versammeln. Er verbirgt sich im Brot und im Wein. Er begegnet uns in der Handauflegung. Wer seine eigene Finsternis erkannt und erlebt hat, der erfährt: „Hier kommt das Licht der Welt zu mir in meinem Leben.“ Es ist eine besondere, einmalige Zeit. Die Antwort, die Licht bringt, ist eine Person. Die Wahrheit, die mein Leben braucht, ist diese Person. Keine Theorie, keine Analyse, kein Programm. Denn auch ich bin mehr als eine Theorie, als ein Programm. Das Licht der Welt macht mich zu einer Person vor Gott. Oder, wie die Epistel sagt: Ein Kind des Lichts.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.