Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr 2023

Von | November 19, 2023
Gebrüder Limburg: Das Jüngste Gericht, Illustration aus den Très Riches Heures, (um 1410)

Predigt: Pfarrer Johann Hillermann

Gnade sei mit euch und Friede,
von dem, der da ist, und der da war,
und der da kommt,
und von Jesus Christus, welcher ist der treue Zeuge,
und der Erstgeborene von den Toten,
und ein Fürst über die Könige auf Erden.
Amen.

31 Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron seiner Herrlichkeit,
32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und
er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet,
33 und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.
34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!
35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.
36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.
37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben?
38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich gekleidet?
39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?
40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!
42 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben.
43 Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.
44 Dann werden sie ihm auch antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?
45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.
46 Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.

Matthäus 25, 31-46

O lieber Herre Gott, wecke uns auf, daß wir bereit seien, wenn dein Sohn kommt, ihm mit Freuden zu empfangen und mit ungeteilten Herzen zu dienen.
Tu das selbst in uns durch dein Wort, Jesus. Amen.

Liebe Gemeinde!
Neulich war ein Neffe zu Besuch bei uns. Er traute sich, mit dem Fahrrad durch die Stadt zu fahren, und es ging auch gut. Doch als er eines Tages zurück war, merkte man: Da stimmt was nicht. Es stellte sich heraus, daß er bei Rot über die Kreuzung gefahren war – direkt unter den Augen eines Polizisten. Das Auge des Gesetzes! Da half es nichts, zu sagen: „Das tun doch alle! Es kam niemand, da war keine Gefahr!“
Was er darüber dachte oder fühlte, war auf einmal völlig unbedeutend. Als er über die Straße fuhr, war das Gesetz so gut wie unwirklich. Seine Selbsteinschätzung war ihm wirklicher. Doch auf einmal war das Urteil des Gesetzes eine übergroße Realität, der er nicht ausweichen konnte. Nun, er hat es überstanden!
Im Evangelium vom Jüngsten Gericht geht es auch darum, wie die Selbsteinschätzung des Menschen verschwindet, wie sie einer ungleich größeren Wirklichkeit, einem wichtigeren Urteil weichen muß. Gott spricht das letzte Urteil über jedes Leben, und kein Mensch.
„Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richtstuhl Christi, auf daß ein jeglicher empfange, nach dem er gehandelt hat bei Leibesleben, es sei gut oder böse.“ (2. Korinther 5, 10) oder aus unserer Epistel heute: „Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.“ (Römer 14, 10).
Entscheidend ist nicht, welchen Eindruck wir bei Menschen hinterlassen haben. Entscheidend ist auch nicht, was wir von uns selber denken oder gedacht haben.
Unsere Gedanken, Worte und Werke – auch was der Mensch versäumt hat – alles kommt bei Gott an und wird dadurch unendlich wichtig.

Jesus sagt: Die letzte und alles entscheidende Begegnung wird die Begegnung mit mir sein. Jeder Mensch geht auf diese eine Begegnung zu. Das steht fest, das ist sicher. Ja, sie steht noch fester, als die Begegnung mit dem Tod. So sagt Paulus uns Christen: „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden.“ (1. Korinther 15, 51). Es ist die eine Begegnung, die alles entscheidet: Die Begegnung mit Jesus Christus. Wie wir jetzt darüber fühlen und denken, spielt keine Rolle und ist nicht entscheidend.
„Der Menschensohn wird kommen in seiner Herrlichkeit, und seine Engel mit ihm.“
Der Menschensohn – so spricht Jesus von sich selbst. Damit macht er klar, daß niemand sonst sagen kann, wer er ist. Kein Hoherpriester, kein Statthalter der Weltmacht, auch nicht eine demokratische Mehrheit, oder ein Medienkonsens – er sagt, wer er ist.
Jesus sagt jedem Menschen: Ich, der Menschensohn komme auf dich zu.
Der Menschensohn wird kommen in seiner Herrlichkeit.
Was kann das heißen? Auf jeden Fall gehört dazu, daß Jesus von nichts und niemanden beeinflußt ist. Niemand bestimmt über ihn, und er bestimmt über alles. Niemand wird ihn definieren, sondern er definiert alles.
Er wird ganz er selbst sein. Und alles, was er ist, wird so deutlich sein, daß es darüber keinen Zweifel geben kann. Die Bibel sagt das so: „Alle Knie werden sich vor ihm beugen müssen.“ (Philipper 2, 10).
Als Jesus noch als niedriger Mensch auf der Erde ging, war das nicht offenbar. Das zeigte sich in erschreckender Weise darin, daß die Menschen „den HERRN der Herrlichkeit gekreuzigt haben.“ (1. Korinther 2, 8). – Doch der Gekreuzigte ist auferstanden. Er ist nicht im Grab geblieben.
Alles, was Jesus gesagt und getan hat, wird am Ende herrlich sein. Er wird die Sonne sein, und nichts wird ihn in den Schatten stellen können. Jeder Mensch wird ihm Recht geben müssen. Das ist seine Herrlichkeit. „Alle Zungen werden bekennen, daß Jesus Christus der HERR sei“ (Philipper 2, 10). Das Göttliche seiner Geburt, das göttliche seiner Worte, das Göttliche seines Leidens und Sterbens – das wird jedem Menschen einleuchten.
Und die Engel kommen mit ihm. Was sagt uns das?
Die ganze Schöpfung wird für ihn sprechen, ihn bestätigen. Es wird nichts geben, was ihm widerspricht. Die ganze Wirklichkeit, Himmel und Erde, wird in seinem Sinne dem Menschen begegnen. Der Hallelujavers aus Psalm 50, 6 spricht es aus: „Die Himmel werden seine Gerechtigeit verkünden; denn Gott selbst Richter.“ Alles wird für Jesus sprechen. – – Als Adam im Paradies gesündigt hatte, bedeckte er sich mit Blättern und benutzte die Schöpfung, um sich vor Gott zu verstecken. Er und Eva versteckten sich im Garten, um ihre Schuld zu verbergen. Gott hat es damals zugelassen. So versucht der Mensch, der Sünder, sich fortwährend zu verstecken. Er benutzt die Schöpfung dazu. Doch wenn der Menschensohn Jesus in seiner Herrlichkeit mit allen Engeln kommen wird, dann wird die Schöpfung niemanden verbergen, sondern jeden hergeben und offenbaren. Ja, auch die Gräber werden die Toten hergeben müssen. Das Gras, was über alles gewachsen ist, wird nicht mehr verbergen, sondern offenbaren.
Jeder Mensch wird vor Jesus erscheinen müssen, mit seinem ganzen Leben: Alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Das ist nicht unsere Entscheidung. Es wird noch notwendiger sein, als die Schwerkraft.
Und dann wird Jesus das letzte Wort sprechen: Sein, oder Nicht-Sein.
Wie ein Hirte Ordnung schafft im Gewimmel und Durcheinander zwischen Schafen und Böcken, so wird Jesus zu den einen JA sagen, und zu den anderen NEIN.
Wer das JA hört, bekommt alles.
Wer das NEIN hört, verliert alles.
So hören wir:
„Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, und ererbt das Reich das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt.“
Und:
„Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln.“
Dieses JA oder NEIN, dieses ALLES oder NICHTS entscheidet sich an dem Menschensohn.
Das JA bringt dir alle Gaben Gottes – aber so, daß in allem Gottes Liebe und Freundlichkeit ohne Filter dich erreicht. Die ganze Schöpfung, die gesamte Geschichte Gottes mit dir, mit den Menschen: Alles wird dich erfreuen, und du wirst es ohne Ende genießen, und aus dir wird die angemessene Antwort darauf hervorbrechen: Lob und Dank. Ohne Ermüden.
Oder es gibt das Gegenteil. Ja, das macht Jesus überdeutlich. „Da wird sein Heulen und Zähneklappern“, Reue ohne Ende, Verzweiflung ohne Ende, Entbehrung ohne Ende. Eben ohne Gott.

Was ist von dir bei dem Menschensohn angekommen?
Hast du ihn gespeist, getränkt, gekleidet, beherbergt, aufgesucht?
Das sind alles Taten, die so elementar sind, daß das jeder Mensch versteht. Hunger, Durst, Blöße, Heimatlosigkeit, Krankheit, Isolation – das sind alles Situationen, da versteht jeder, daß das eine Not ist, und wie die Not behoben werden kann. Das muß nicht studiert werden.
Jesus macht mit seinem Wort den Nächsten groß und wichtig. Seine Worte machen den Hunger eines anderen größer und wirklicher, als meinen Hunger. Seine Worte machen die Einsamkeit des anderen unerträglicher, als die eigene Einsamkeit.
Normalerweise ist es ja so, daß ich den Durst eines anderen nicht spüre. Aber wenn ich weiß, daß er Durst hat, dann wird dieser Durst eine Realität. Dann läßt mir das keine Ruhe, bis ich ihn getränkt habe. Das Wort Jesu macht den Nächsten und seine Not übergroß für mich.
Liebe Gemeinde, Jesus ruft uns aus dem Schlaf, der für den Mitmenschen verschließt. Daran besteht kein Zweifel. Jesus macht mit diesen Worten unsere Taten unendlich wichtig.

Doch frage ich mich: Wo ist hier der Glaube? Verdienen wir also durch unsere Leistungen das ewige Leben? Welche Leistungen sollen das denn am Ende sein? Soll ich alles einmal tun? Speisen, Tränken, Kleiden, Beherbergen, Besuchen? Oder soll ich nun das alles unentwegt tun?
Dann können diese Worte nur zwei Folgen haben: Heuchelei oder Verzweiflung. Heuchelei, weil ich mir dann sagen kann: Ich habs schon getan, ich brauch mich nicht mehr kümmern! – Oder Verzweiflung, weil ich dann sagen muß: Es gibt immer noch Hungrige, ich werde niemals fertig!
In beiden Fällen bin ich mit meinen eigenen Taten allein.
Dann ist es keine Begegnung mit Christus mehr.
Doch Jesus bleibt der Sprecher dieser Worte. Sie sind an seine Person gebunden. Jesus spricht im Evangelium darüber, wer seine Brüder eigentlich sind.
Einmal bei Matthäus im 12. Kapitel. Während Jesus predigt, wollen seine Mutter und seine Brüder ihn sehen. Darauf antwortet er: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er streckte die Hand aus über seine Jünger und sprach: Siehe da, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.“ (Matthäus 12, 48-50).
Und im 10. Kapitel spricht er über seine Jünger: „Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat. … Wer einem dieser Geringen auch nur einen Becher kalten Wassers zu trinken gibt, weil es ein Jünger ist, wahrlich, ich sage euch: Es wird ihm nicht unbelohnt bleiben.“ (Matthäus 10, 40+42).
Wenn Jesus also sagt: „Was ihr getan habt, einen unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ – dann schließt das auf jeden Fall seine Apostel mit ein, und kann auf jeden Fall nicht etwas gegen die Apostel sein.
Die Apostel gingen in alle Welt, und brachten Jesus zu den Menschen. Wer dem Evangelium Glauben schenkte, der nahm natürlich auch die Apostel auf, um möglichst viel über Jesus zu hören, und dann vor allem die Vergebung Jesu zu empfangen. Und wer die Apostel unterstützte, der trug dazu bei, daß noch mehr Menschen das Evangelium hörten und Gottes Gnade geschenkt bekamen.
Diese Priorität ist der Schlüssel. Wir brauchen unbedingt das Wort Gottes, und sollen dazu beitragen, daß es gehört wird.
Jesus sagt zu dem Teufel, der ihn überreden will, mit Zauberei aus Steinen Brot zu machen: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das durch den Mund Gottes geht.“ (Matthäus 4, 4 = 5. Mose 8,3). Wer dazu beiträgt, daß Gottes Wort gehört wird, der verbreitet Leben. So sagt Jesus auch von sich selbst: „Meine Speise ist die, daß ich tue den Willen dessen, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk.“ (Johannes 4, 34). Wer also Gott durch sein Wort an sich selbst und anderen wirken läßt, der gibt dem Menschensohn zu essen.
Das wird am Ende das Größte sein. Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist, als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Beitragsbild: Gebrüder Limburg: Das Jüngste Gericht, Illustration aus den Très Riches Heures, (um 1410)