22. Sonntag nach Trinitatis

Von | November 5, 2023
Claude Vignon: Das Gleichnis vom Schalksknecht, 1629

Predigt: Pfarrer Johann Hillermann

21 Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal?
22 Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.
23 Darum gleicht das Himmelreich einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte.
24 Und als er anfing abzurechnen, wurde einer vor ihn gebracht, der war ihm zehntausend Zentner Silber schuldig.
25 Da er’s nun nicht bezahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und seine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und damit zu bezahlen.
26 Da fiel ihm der Knecht zu Füßen und flehte ihn an und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir’s alles bezahlen.
27 Da hatte der Herr Erbarmen mit diesem Knecht und ließ ihn frei und die Schuld erließ er ihm auch.
28 Da ging dieser Knecht hinaus und traf einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Silbergroschen schuldig; und er packte und würgte ihn und sprach: Bezahle, was du mir schuldig bist!
29 Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir’s bezahlen.
30 Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er bezahlt hätte, was er schuldig war.
31 Als aber seine Mitknechte das sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten bei ihrem Herrn alles vor, was sich begeben hatte.
32 Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du böser Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast;
33 hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?
34 Und sein Herr wurde zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis er alles bezahlt hätte, was er ihm schuldig war.
35 So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder.

Matthäus 18, 21-35

Gebet: HERR, segne Dein Wort an uns, Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.

Liebe Brüder und Schwestern!
Wer vergißt, kann nicht zählen. Der muß halt immer wieder von vorne anfangen. Oder es einfach sein lassen.
Gott zählt die Haare auf dem Haupt seiner Kinder (Matthäus 10,30). Das ist uns zum Trost gesagt.
Der Trost wird noch größer, wenn wir hören: „Zähle die Tage meiner Flucht, / sammle meine Tränen in deinen Krug; ohne Zweifel, du zählst sie.“ (Psalm 56, 9). Gott zählt die Tränen. Um sie alle einzeln für immer abzuwischen. (Offenbarung 21,4 ; Jesaja 25, 8).
Gott zählt auch die Schafe seiner Herde, und wenn eines fehlt, dann ist das eine wie alle 100 Schafe, so daß Gott 99 auf den Bergen allein läßt, um das eine zu suchen und zu finden. Das eine ist dann nicht das Hundertste oder ein Hundertstel, sondern das eine gefundene Schaf ist dann ALLES, und die GANZE Freude. (Matthäus 18, 12-14).
Der Trost der gezählten Haare und Tränen ist aber gerade deshalb ein wirklicher und ewiger Trost, der durch alles hindurchträgt, weil Gott auch die Sterne zählt, ja sie individuell mit Namen ruft (Psalm 147, 4) – und auch die flüchtigen Wolken, wie wir bei Hiob lesen können: „Wer ist so weise, daß er die Wolken zählen könnte?“ (Hiob 38, 37).
Weil Gott nicht vergißt und alles zählt, so daß nichts verlorengeht, hat Er die Macht, und wir den Trost, daß wir nicht verlorengehen, sondern das ewige Leben haben. (Johannes 3, 16). Wenn Gott nicht vergißt, ist alles gut.

Oder aber? Wirklich? Wenn nichts vergessen ist, und alles vorgerechnet werden kann? Wenn über alle Fehler Buch gehalten wurde?

Petrus fragt nach einer Zahl. „Wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben?“ Wie oft muß ich vergessen? Kann man sich merken, wie oft man vergißt?
„Wann ist es genug?“ Ab wann ist es mit der Vergebung zu Ende? Kann ich bei der ersten Vergebung schon die Strichliste anfangen?: „Eine weg – noooch sechs!“ – „Zwei weg – du hast noch genau fünf!“ – „Dreimal vergeben – du hast noch vier Chancen!“ – „Das waren jetzt viermal! – Dreimal noch, und dann ….“ – „Fünf – zwei“ – „Sechs – diesmal noch!“ – „Sieben! – Ha!“
Ich hab da mal so richtig gezählt, oder?
Ich hab deshalb gezählt, weil damit überdeutlich wird: Abgezählte Vergebung ist keine Vergebung.
Gott sucht das verlorene Schaf, als wäre es das einzige.
Jede Vergebung ist eine einzige. Sie ist nur eine Vergebung, wenn sie einmalig ist. Immer wieder.
Darum sagt Jesus: „Ich sage dir: Nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal.“ Sind das 490? Oder 7 hoch 70?
Auf jeden Fall sollst Du das Zählen nicht etwa nur aufgeben, sondern aktiv sein lassen. Denn Vergeben ist immer göttlich.
Die Schuld des Knechts ist astronomisch. Man hat errechnet, daß die 10 000 Zentner Silber das Mehrfache eines Staatshaushalts der damaligen Zeit darstellen. Es war völlig aussichtslos, daß ein Mensch das mit seiner Arbeit oder wie auch immer bezahlt hätte. Man fragt sich nur: Wie konnte es sein, daß dieser Knecht eine Schuld anhäufen konnte, die so riesig ist? Er muß völlig falsch gewirtschaftet haben. Alles muß ausnahmslos in eine falsche Richtung gegangen sein!
So ist unsere Schuld Gott gegenüber. Jede Sünde, jedes Versäumnis bringt Gottes Ordnung völlig durcheinander. Wenn Gott uns alle Konsequenzen auch nur einer Sünde zeigen würde, dann würden wir das nicht verkraften. Es würde uns umhauen. Wir verletzen den heiligen, allmächtigen und heiligen Gott. Durch die Sünde haben wir Ihn gegen uns. Wir haben keine Vorstellung von dem, was wir anrichten durch unsere Sünde. Die Dimension vor Gott ist viel viel größer, als die zwischen Menschen. Manchmal erleben wir es, daß die Schuld zwischen Menschen uns ganz umhaut. Das sind 100 Groschen gegen 10.000 Zentner. Es ist einfach kein Vergleich. Wir schulden Gott im Grunde das heile Universum, das wir durch die Erbsünden fortwährend verhunzen und ohne Dank gegen Gott in Anspruch nehmen. Unser Leben ist ein geklautes Leben. Wenn Gott mit uns gerecht vorgehen würde, dann würde seine Gerechtigkeit uns von allem abtrennen, was wir sind und haben. Es heißt ja: Frau und Kinder und alles verkaufen. Alles wird zu einer anklagenden Schuld. Da hilft wirklich nur Gnade! Der HERR erläßt die niederdrückende, lähmende, zerstörende Schuldenlast. Die Gnade ist unermeßlich. Es gibt sie, weil Gott um unseretwillen nicht zählt. Weil unser Leben für ihn zählt. Wie beim verlorenen Schaf.
Jesus ruft uns auf, in der Vergebung zu bleiben. Gottes Vergebung für uns bewährt sich in unserer Vergebung für unseren Nächsten.
Ich habe einmal eine Predigt gehört, in der am meisten darüber gesprochen wurde, daß Gott nicht so sei, wie der König. Also: Gott wird Seine Vergebung nicht zurücknehmen, wenn wir sie nicht unserem Nächsten gegenüber bewähren. Doch das ist Gottes ernste Warnung. Denn der böse Knecht hat die astronomische Vergebung nicht kapiert. Die große Gnade hat ihn offensichtlich nicht erreicht. Wenn er von ihr erfüllt gewesen wäre, dann hätte er seinem Mitknecht ohne Zögern und mit göttlicher Freude und Freiheit vergeben. Aber er hat nicht. Damit hat er bewiesen, daß ihm die Vergebung seines Herrn nichts bedeutet, sie war dann keine Realität für ihn.
Dieser böse Knecht hat seine eigene Not und Schuld gespürt, aber er hatte kein Gespür für die Not, die der andere Knecht hatte. Der Geist der Vergebung zeigt uns, wie sehr der Nächste, der an uns schuldig geworden ist, darunter leidet, und führt uns dahin, daß es uns ein Bedürfnis wird, daß er davon frei wird. Das ist göttlich. Das hat Gott mit uns vor.

Noch 2 abschließende Gedanken:

  1. Zur Vergebung gehört das deutliche Eingeständnis. Die Knechte bekennen ganz klar ihre Schuld. Das ist die Vorlage für eine Vergebung. Die Schuld soll als Schuld ausgesprochen werden.
  2. Wir sehen an dem Gleichnis, wie Worte aufschließen und zuschließen. Das Urteil des Königs schließt den Knecht ein; seine Vergebung schließt das Gefängnis auf.
    Durch seine Weigerung, dem Mitknecht die Schuld zu erlassen, schließt er ihn ins Gefängnis ein. Unvergebene Schuld ist ein Gefängnis.

Der Friede Gottes, welcher höher ist, als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Bild: Claude Vignon: Das Gleichnis vom Schalksknecht, 1629