10. Sonntag nach Trinitatis

Von | August 14, 2023
Francesco Hayez: Die Zerstörung des Tempels von Jerusalem,1867

Predigt: Pfarrer Johann Hillermann

Gnade sei mit euch und Friede,
von Gott, dem Vater,
und unserem HERRN Jesus Christus.
Amen.

17 Wenn aber nun einige von den Zweigen ausgebrochen wurden und du, der du ein wilder Ölzweig warst, in den Ölbaum eingepfropft worden bist und teilbekommen hast an der Wurzel und dem Saft des Ölbaums,
18 so rühme dich nicht gegenüber den Zweigen. Rühmst du dich aber, so sollst du wissen, daß nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich.
19 Nun sprichst du: Die Zweige sind ausgebrochen worden, damit ich eingepfropft würde.
20 Ganz recht! Sie wurden ausgebrochen um ihres Unglaubens willen; du aber stehst fest durch den Glauben. Sei nicht stolz, sondern fürchte dich!
21 Hat Gott die natürlichen Zweige nicht verschont, wird er dich doch wohl auch nicht verschonen.
22 Darum sieh die Güte und den Ernst Gottes: den Ernst gegenüber denen, die gefallen sind, die Güte Gottes aber dir gegenüber, sofern du bei seiner Güte bleibst; sonst wirst du auch abgehauen werden.
23 Jene aber, sofern sie nicht im Unglauben bleiben, werden eingepfropft werden; denn Gott kann sie wieder einpfropfen.
24 Denn wenn du aus dem Ölbaum, der von Natur wild war, abgehauen und wider die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft worden bist, wie viel mehr werden die natürlichen Zweige wieder eingepfropft werden in ihren eigenen Ölbaum.

Römer 11, 17- 24

Gebet: Jesus, lieber Heiland und HERR, hilf uns jetzt durch Dein Wort, Dir nachzufolgen, und nicht in der Finsternis hängenzubleiben. Amen.

Liebe Gemeinde!
Warum gedenken wir als Christen dieses Tages? Es war ein furchtbarer, verhängnisvoller Tag, der 10. August im Jahre 70.
Nach vielen und schweren, erbitterten Kämpfen, mit viel Blutvergießen, brannte der Tempel in Jerusalem, und die Stadt wurde zerstört.
Was können wir Christen daraus lernen? Was hat das mit unserem Glauben zu tun?
Die Zerstörung Jerusalems hat schon allein deshalb mit unserem Glauben zu tun, weil Jesus sie prophezeit hat. Wir haben das im Evangelium gehört:
„Als Jesus nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.“ (Lukas 19, 41-44).
Jesus hat es kommen sehen, und diese dunkle, schwere Zukunft wenige Tage vor seinem Tod prophezeit.
Jesus spricht auch klar aus, daß diese Katastrophe damit zusammenhängt, daß Jerusalem, das heißt, die Verantwortlichen des Volkes Israel, ihn, Jesus als Messias und Sohn Gottes aufs Überdeutlichste abgelehnt haben. Jerusalem hat „nicht erkannt“ – nicht erkannt, was zu seinem Frieden dient, und nicht erkannt, daß es von Gott selbst besucht worden ist.
Das sagt unser Herr Jesus über Jerusalem. Und der Sohn Gottes weint dabei. Tränen der Trauer. Trauer über einen Verlust, eine Enttäuschung. Das Volk Gottes lehnt den Sohn Gottes ab, öffentlich, im Namen des Gesetzes. Es lehnt der Frieden, den Gott durch Jesus anbot, ab. Die Folge war die Zerstörung der Stadt und des Herzens der Stadt, des Tempels. Gott meint es ernst. Gott hat sich in Jesus gezeigt, in Jesus fand nun die heilsame Begegnung mit Gott statt, und nicht mehr im Tempel.
Es ist ein schwerwiegendes Thema: Jesus ist die Erfüllung des Alten Testamentes, und doch hat nur eine Minderheit des Volkes Israel Jesus als solchen erkannt und im Glauben angenommen. Die Mehrheit hat ihn abgelehnt.
In der Apostelgeschichte, dem Bericht über den Anfang der Christenheit, hören wir, wie die Apostel, vor allem der Apostel Paulus, in jeder Stadt zuerst in der Synagoge Christus verkündigten, und wie sie wiederholt abgelehnt und bedroht wurden. Dann kam das Evangelium zu den Nichtjuden, den Heiden, also zu uns.
In Jerusalem war die Urgemeinde: Die bestand aus Juden oder Israeliten, die Jesus nachgefolgt waren, und die sich nach den ersten Predigten der Apostel taufen ließen. Das waren alles geborene Juden, die erkannten: In Jesus ist Gott zu uns gekommen und hat alles erfüllt, was Er unseren Vorfahren versprochen hat.
Im römischen Weltreich entstanden bald Gemeinden aus Juden und Nichtjuden.
So konnte die Situation entstehen, daß Römische oder Griechische Christen sich fragten: Wie konnte das nur geschehen, daß Gottes eigenes Volk den Sohn Gottes verwarf?
Es bestand die Gefahr, daß Heidenchristen sich über die Judenchristen, vor allem über die Urgemeinde in Jerusalem, erhoben, auf sie herabschauten, ja, die Verbindung zu ihr für überflüssig hielten. Wozu immer wieder das Alte Testament? War das Alte Testament nicht gescheitert? Hatte Jesus es nicht überholt? War das Alte Testament vielleicht am Ende ein Hindernis, Jesus zu erkennen und an ihn zu glauben? Am Ende konnten Heidenchristen zu der Ansicht kommen, daß Jesus eigentlich gar nicht für das Volk Israel gemeint war, daß Juden aus irgendeinem Grund gar nicht Christen werden konnten oder sollten, daß es deshalb aussichtslos war, dem Volk Israel das Evangelium zu verkündigen.
Unser Predigttext widerlegt diesen Stolz und verwirft ihn.
„Sie nicht stolz, sondern fürchte dich!“, warnt Paulus sie.
Diese Warnung untermauert er mit einem Gleichnis. Dem Gleichnis vom Ölbaum.
Es sind genaugenommen zwei Ölbäume.
Der eine Ölbaum ist edel und fruchtbar. Er hat eine gute Wurzel mit gutem Saft, der Leben bringt.
Der andere Ölbaum ist wild und unfruchtbar. Seine Wurzel ist nicht gut, und bringt kein Leben.
Es passiert etwas Unerhörtes:
Dem edlen Ölbaum werden edle Zweige abgehauen; und es werden Zweige vom wilden Ölbaum dem edlen Ölbaum eingepfropft. Die wilden, bisher unfruchtbaren Zweige bekommen Zugang zur edlen Wurzel und zum guten Saft, und werden fruchtbare Zweige.
Daneben liegen edle Zweige, abgetrennt vom edlen Ölbaum, und drohen unfruchtbar zu bleiben.
Nun sagt Paulus: Du ehemals wilder Zweig! Halte dich nicht für etwas Besseres! Ohne die Wurzel wärest du noch wild und ein Nichts! Erhebe dich nicht über die abgehauenen Zweige. Gott, der sie abgehauen hat, kann sie ebensogut auch wieder einfügen in den edlen Ölbaum.
Der edle Ölbaum ist das Volk Gottes. Die Wurzel, das sind die Empfänger und Träger der Verheißung, angefangen bei Abraham, Isaak und Jakob. Der Saft in der Wurzel ist der Heilige Geist, der in den allen den Glauben schaffte, der bei Gott ankam.
Der wilde, unfruchtbare Ölbaum sind die Heiden, die Gott nicht kennen und darum keine Zukunft haben.
Paulus beschreibt nun die Situation im Neuen Testament:
Es gibt Zweige vom edlen Baum, die nicht mehr am Baum sind. Das sind Israeliten, die leiblich von Abraham, Isaak und Jakob abstammen, aber nicht mehr mit der Wurzel, dem Glauben, verbunden sind. Sie sind abgehauene Zweige.
Stattdessen gibt es eingepfropfte wilde Zweige im guten Ölbaum. Das sind die Heiden, die durch die Taufe zum Glauben gekommen sind.
In diesem Gleichnis wird vorausgesetzt: Wer an Jesus glaubt, der ist ein Zweig am guten Ölbaum – ob er nun geborener Jude und geborener Nichtjude ist. Gott selbst trennt ab und pfropft ein. Eine Ablehnung Jesu und ein Zugang zum Saft und zur Wurzel können nicht zugleich sein.
Nun warnt Paulus: Du trägst nicht die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.
Das bedeutet: Jeder Christ aller Zeiten wird immer zu einem Teil der Urgemeinde. Es kann keine Christenheit geben ohne diesen Anfang – daß Juden wie die Apostel und andere durch den Heiligen Geist erkannt haben: Jesus ist der Messias, er ist der König Israels, er ist Gottes Sohn, er erfüllt das Gesetz Gottes, er erfüllt alles, was Gott versprochen hat. Wir Christen werden Teil von Gottes Geschichte mit den Menschen, wie sie im Alten Testament festgehalten wird. Jesus bringt die Gnade, die Geduld, aber auch die Strenge Gottes im Alten Testament zu uns. Durch die Taufe sind wir Vollerben Abrahams (Galater 3, 29). Christus vermittelt das Erbe. Ohne Christus kein Erbe.
Durch Christus aber ganz Erbe. Das gilt auch für die geborenen Juden aller Zeiten.
Das ist das Schwere des ganzen Neuen Testamentes.
Jesus und die Apostel rufen nämlich auch die abgehauenen Zweige zurück um edlen Ölbaum. Eine Kirche kann sich nicht apostolisch nennen, wenn sie auf diesen Ruf verzichtet. „Gott kann sie wohl wieder einpfropfen“, sagt Paulus. Was wieder eingepfropft werden muß, das ist erstmal nicht drin. Gott nimmt die Ablehnung Seines Sohnes sehr sehr ernst. Das Evangelium von Jesus ruft jeden Menschen, ohne Ausnahme. Wer nicht durch den Glauben mit Jesus verbunden ist, der ist entweder ein wilder Zweig, oder ein abgehauener edler Zweig. Beide brauchen es gleichermaßen, daß Gott sie einfügt in Seine Kirche, in Sein Volk.
Paulus und mit ihm das ganze Neue Testament ändern die Frage von: Was ist deine Herkunft – bist Du leiblicher Nachkomme Abrahams, oder nicht? – zu der Frage: Glaubst du wie Abraham an Gottes Verheißung in Christus, oder nicht? Es ist eine neue Geburt, die durch Wasser und Heiligen Geist in der Taufe geschieht. (Johannes 3, 5).
Sei nicht stolz! warnt Paulus. Er warnt vor Vergleichen nach menschlichen Maßstäben. Ein Heidenchrist konnte sich etwas darauf einbilden, daß er als „wilder Zweig“ einen „edlen Zweig“ überrundet hatte. Damit vergaß er, daß es nur Gottes Gnade war, die ihn aus Finsternis, Sinnlosigkeit und Zerstörung herausgeholt hatte.
Und umgekehrt erinnert Paulus daran, daß nicht die Herkunft den abgetrennten Juden zum Verhängnis wurde, sondern der Unglaube. Darum hören wir: „Sie wurden ausgebrochen um ihres Unglaubens willen; du aber stehst fest durch den Glauben.“ Glauben an Jesus, und gleichzeitig stolz und arrogant auf Nichtgläubige herabschauen, das ist ein Zeichen, daß man die Gnade vergessen hat.
Zwischen dem eingepfropften wilden Zweig, und dem abgehauenen edlen Zweig steht keine Leistung, die wir Menschen vergleichen könnten, sondern die unvergleichliche, völlig überwältigende und überraschenden Gnade Gottes.
Die Gefahr, herunter zu schauen, besteht immer.
Allerdings kann man gerade auch heutzutage eine andere Versuchung wahrnehmen: Die des Herabschauens auf das Neue Testament. Das sieht dann so aus, daß man nachdrücklich als Christ behauptet: Heutige Juden brauchen das Evangelium nicht. Ja, Christen dürfen ihnen nicht mit der Erwartung begegnen, daß das Evangelium von Jesus Christus auch sie, gerade sie meint. Man entwickelt ein Verständnis dafür, daß Menschen Christus ablehnen. Damit wird alles geleugnet, was wir heute im Predigttext gehört haben. Ein Evangelium, daß nicht auch, ja in erster Linie, die Juden meint (Römer 1, 16), taugt für uns geborenen Heiden überhaupt nichts.
Es mag unzählige Gründe geben, daß Christen sich trauen, über das Neue Testament hinauszugehen. Es gibt zum Beispiel einen Synodalbeschluß einer Evangelischen Kirche, in dem festgehalten wird, daß gegen den Wortlaut des Neuen Testamentes gepredigt werden muß, wenn es um diese Frage geht. Sagt man damit nicht, daß alle Juden, die Jesus nachgefolgt sind, einen Fehler begangen haben? Alle Apostel waren leibliche Nachkommen Abrahams. Sie sind für den Glauben an Jesus gestorben, und vorher haben sie schlimmste Verurteilungen und Verleumdungen deswegen erlitten. War das alles ein Fehler und ein Irrtum? Kann eine Kirche sich noch apostolisch nennen, wenn sie so auf die Apostel herabschaut?
Es ist klar. Mit den Aposteln gehen, oder doch wenigstens die Lehre der Apostel an dieser Stelle nicht verlassen, das wird auf Widerstand stoßen. Doch wir stehen und fallen nicht mit dem Widerstand oder der Zustimmung der Welt.
Wie unser Text heute sagt: Wir stehen durch den Glauben, durch Gottes Gnade. Diese Gnade muß allen Menschen bezeugt werden.

Der Friede Gottes, welcher höher ist, als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Beitragsbild: Francesco Hayez: Die Zerstörung des Tempels von Jerusalem, 1867