10. Sonntag nach Trinitatis

Von | September 19, 2020
Paulus

Gnade sei mit euch und Friede
von Gott, unserem Vater,
und dem HERRN, Jesus Christus.
Amen.

Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist,
daß ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlaß in meinem Herzen habe.
Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder, die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch,
die Israeliten sind, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen,
denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen.

Römer 9, 1-5

Liebe Gemeinde!

Tränen, Trauer, Schmerz – da ist Not, und wo Not ist, da wird alles andere erst einmal unwichtig. Wenn ein Kind weint, dann muß alles andere erst einmal warten. Wenn ein wichtiger Mensch traurig ist, dann wende ich mich ihm zu, und trage den Schmerz mit, und tue was ich kann, den Schmerz zu lindern, oder noch besser: zu beseitigen. Weg damit!
Schmerz ist etwas, das nicht sein soll, oder ein Zeichen von etwas, das nicht sein soll, und dringend, aus Not, besser gemacht werden muß.
70 Jahre nach Christus, also nicht ganz 40 Jahre nach Kreuz und Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus, wurde Jerusalem vom den Römern und Titus erobert und zerstört. Ein erbitterter Kampf mit furchtbaren Verlusten ging zu Ende. Eine unvorstellbare Erschütterung, scharfer Schmerz für das Volk Israel. Die Klagemauer in Jerusalem legt Zeugnis ab für eine tiefe Trauer über diese Katastrophe. Der Tempel – der Ort der Gegenwart Gottes, der Mittelpunkt der Religion Israels und Ort der Verheißung und Hoffnung, wurde dem Erdboden gleich gemacht, und damit der Gottesdienst Israels nach dem Gesetz des Mose mit seinen Opfern und der Priesterschaft unmöglich. Das ist bis heute so. Und bis heute wird das mit Tränen beklagt. Ein Schmerz und eine Not.
Und wir Christen? Warum ist dieses Ereignis in unserem Kirchenkalender? – Übrigens nicht ohne Diskussion und Debatte! – Was machen wir heute? Schauen wir schadenfroh auf diese Niederlage? Oder stimmen wir mit ein in die Klage Israels?
Weder, noch! Beides nicht!
Wie in allen Fragen, so müssen wir uns hier auch vom Wort Gottes in der Heiligen Schrift leiten lassen.
Im Evangelium haben wir von den Tränen unseres Herrn Jesus Christus gehört. Er weint über Jerusalem – warum? „Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zu deinem Frieden dient!“ – Jesus weint, weil Israel ihn nicht als den Messias, als den Erfüller von Gottes Verheißungen und Gesetz erkennt und annimmt. – In diesem Zusammenhang prophezeit Jesus dann die Zerstörung Jerusalems. Jesus weint darüber, „ daß es vor Israels Augen verborgen ist“ – und danach ist er von Schmerz erfüllt, daß Gott es zulassen wird, daß Jerusalem brutal zerstört wird. Jesus weint und trauert und hat Schmerzen über Israel, weil es ihn nicht annimmt. Das Evangelium hätte zu seinem Frieden gedient! – Und alle Nachfolger Jesu sollen diese Tränen und ihre Ursache mit großer Ehrfurcht bedenken. Wo Jesus weint, können wir nicht gleichgültig sein; was Ihm Schmerzen bereitet, können wir nicht schönreden, worüber er trauert, dürfen wir nicht irgendwie rechtfertigen.
Es kann uns also nicht gleichgültig sein, daß es Israeliten gab und gibt, die Jesus nicht als ihren König und Messias annehmen, wir können es nicht schönreden, daß das Volk, zu dem Jesus in erster Linie gekommen ist, ihn mehrheitlich abgelehnt hat; und wir können diese Ablehnung nicht rechtfertigen oder Verständnis dafür aufbringen. Die Tränen Jesu hindern uns daran.
Der Apostel Paulus würdigt die Tränen Jesu über Jerusalem 100- %ig angemessen auf seine Weise.
In unserem Predigttext spricht der Apostel Paulus von einem großen Schmerz. Und er macht deutlich, daß es nicht irgendein Schmerz ist – also nur Kopfschmerzen wie eine Krankheit, auch nicht ein persönlicher Kummer oder Ärger. Paulus spricht sehr feierlich: „Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist, daß ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlaß in meinem Herzen habe.“ Er spricht die Wahrheit in Christus – also aus dem Glauben an Jesus heraus. Er hat sich in seinem Gewissen geprüft und am Zeugnis und Wirken des Heiligen Geists, also an dem Alten Testaments geprüft. Es ist also ein Schmerz und eine Trauer, die nicht nur privat ist, sondern die ein Teil der verbindlichen Verkündigung des Apostels Paulus. Wir kommen an seinem Schmerz nicht vorbei, so wie wir an den Tränen Jesu nicht vorbeikommen.
Paulus unterstreicht die Not, die ihm dieser Schmerz bereitet, mit Worten, die für einen Christen eigentlich unaussprechlich sind: „Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder“ – in seinem Schmerz hatte er schon den Wunsch, aus der Gemeinschaft mit Christus verbannt zu werden, wenn das helfen würde, daß seine Verwandten aus Israel zum Glauben an Jesus kommen. Er ist also bereit, sein Wertvollstes, sein Kostbarstes herzugeben. Man merkt also, wie ernst es dem Apostel Paulus ist um seine „Stammverwandten nach dem Fleisch.“
Das erinnert an Mose im Alten Testament. Als Mose auf dem Berge Sinai das Gesetz Gottes, die Zehn Gebote empfing, machte das Volk Israel unter Anleitung von Moses‘ Bruder Aaron das Goldene Kalb zum Götzen – einen sichtbaren, greifbaren Götzen gegen den unsichtbaren, unbegreiflichen Gott. Nachdem Mose dem Volk seine Schuld deutlich gemacht hatte, betete er noch einmal: „Ach, das Volk hat eine große Sünde getan, und sie haben sich einen Gott von Gold gemacht. Vergib ihnen doch ihre Sünde; wenn nicht, dann tilge mich aus dem Buch das du geschrieben hast.“ (2. Mose 32, 32). Mose will sich selbst opfern, um Israel von der Schuldenlast zu befreien. Doch Gott ließ sich darauf nicht ein. Mose mußte Israel weiter durch die Wüste führen.
Paulus würdigt die Tränen Jesu über Jerusalem auf seine Weise. Es ist ein Schmerz, eine Trauer und eine Not – und weil sie „in Jesus Christus“, „im Heiligen Geist“ und weil sein „Gewissen davon Zeugnis gibt“, ist dieser Schmerz angemessen. Der Grund ist also wahr. Die Tatsache, daß Israel das Evangelium nicht annimmt, Jesus nicht als seinen König annimmt, ist etwas, was der Apostel Paulus niemals gutheißen, befürworten oder neutral betrachten kann. Das ist nicht seine persönliche Meinung, sondern die Meinung Jesu, des Heiligen Geistes und damit des dreieinigen Gottes.
Paulus kommt von dieser Frage und diesem Schmerz nicht los, und er zählt das auf, was den Schmerz nicht vergehen läßt.

  1. Es sind seine „Verwandten nach dem Fleisch“ – die Juden sind seine Brüder, seine Familie, Sippe. Die gemeinsamen Großeltern, Vorfahren verbinden Paulus mit ihnen. Es bewegt mich, daß der Apostel in Christus, im Heiligen Geist, in seinem Herzen und Gewissen, wo es um die höchsten Dinge geht, an seine Verwandten, ja an sein eigenes Volk denkt. Diese menschliche Nähe und der christliche Glaube schließen sich nicht aus. Daß Familienmitglieder, Verwandte, auch große Teile des eigenen Volkes Christus und seine Gnade ablehnen, das kann einem Christen nicht gleichgültig sein. Je mehr Glaube da ist, und Liebe, um so größer wird der Schmerz deswegen sein. Beten wir für sie zu Gott, und trauen wir Gott uneingeschränkt zu, daß Er sie erreichen kann!
  2. Es sind die Erben Gottes – Paulus leidet deshalb unter der Situation, weil Gott Israel aufs beste für das Kommen Jesu vorbereitet hatte. Sie sind „Israeliten, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen“. In diesen Worten wird Gottes Weg mit Israel.
    „Herrlichkeit“ ist die wunderbare, glänzende, freundliche Anwesenheit Gottes. Die ganze Zuwendung und Begleitung – Gott hat sich Israel zu erkennen gegeben – sie jahrzehntelang durch die Wüste geleitet und gerettet. Feinde abgewehrt, wunderbar gespeist, sie ins Heilige Land kommen lassen, ihnen bei allen Fehlern immer wieder vergeben und neu angefangen. Das ist Gottes Freundlichkeit, die das Dunkel hell macht.
    „Kindschaft“ – Mit dieser Herrlichkeit war das Volk Israel wirklich von Gott gemeint. So wie gute Eltern ihre Kinder in eine gute Zukunft führen wollen, so hat Gott seinem Volk Israel eine ganz besondere Zukunft zugedacht.
    „Bundesschlüsse“ – Gott hat sich feierlich gebunden. „Ich bin der HERR, dein Gott!“ –
    „Gesetz“ – Der Wille Gottes, die Gebote – wissen, was von Gott trennt, das mit ihm verbindet – Klarheit darüber. Das Geheimnis des Lebens: Das hat Israel exklusiv und stellvertretend für alle Menschen empfangen. Dazu hat Gott auch Propheten gesandt und begabt und inspiriert, damit man in Israel aus jeder Situation zu Gott zurückfinden konnte.
    „Gottesdienst“ – Israel hatte die Gewißheit: Wie wir Gottesdienst feiern, so ist das von Gott gewollt, das kommt an. Man konnte voller Vertrauen bitten, danken, Buße tun, seine Aufgaben erfüllen, denn alles war vom Gottesdienst begleitet und beleuchtet.
    „Verheißung“ – Die Zukunft mit Gott. Das Versprechen, alles wahr zu machen. Der Grund, immer wieder zur Hoffnung zurückzufinden.
    Dieses alles bereitete Israel aufs beste vor, Jesus als den Sohn Gottes, als den Bringer von Gottes Gnade zu erkennen und anzunehmen.
    Israel war in der ersten Reihe, war mit Namen gemeint und gerufen.
    Paulus war das ja auch – und hat zunächst Jesus mit grimmiger Überzeugung abgelehnt. Doch als Jesus selbst sich Paulus in den Weg stellte, wurde das anders. Da hat Paulus das Erbe angenommen, was ihm zugedacht war. In Jesus wurde das ganze Alte Testament wahr und klar. Die Griechen, die Inder, die Römer – jedes andere Volk hätte Jesus nicht erkannt, nicht verstanden. Es mußte Israel. Und die 12 Apostel haben stellvertretend für die 12 Stämme Israels Jesus nachgefolgt und ihm zugehört, seine Taten bezeugt – bis hin zu seinem Tod am Kreuz, seine Grablegung und dann seine herrliche Auferstehung. Das konnten sie nur aufnehmen, weil sie im Alten Testament zuhause waren, darüber konnten sie nur richtig sprechen, weil Gott ihnen Worte im Alten Testament gegeben hatte. Mit griechischen Göttersagen und germanischen Heldengeschichten hätten sie das nicht geschafft.
    Jetzt verstehen wir den Schmerz des Paulus noch besser. Jetzt kommen wir den Tränen Jesu näher. Sie haben einen Ehrenplatz in der Kirche. Wir können nie so denken oder reden, als ob es sie nicht gebe!
    Das gilt für Israel bis heute. Paulus gibt uns keinen Grund, sich damit abzufinden, daß Israel Jesus nicht anerkennt. Also finden wir uns auch nicht damit ab.
    Doch es gilt auch für unsere Familie und Verwandten, und warum nicht auch für unser Volk?
    Paulus hat ja bei aller Liebe zu Israel das Evangelium vor den anderen Völkern nicht verschwiegen. Im Gegenteil! Also schließt die Sorge für die eigene Familie und das eigene Volk nicht aus, daß das Evangelium alle Menschen meint.
    Laßt uns wieder und wieder Gott dafür anflehen und bitten!

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.