15 Zum Fest aber hatte der Statthalter die Gewohnheit, dem Volk einen Gefangenen loszugeben, welchen sie wollten.
Matthäus 27, 15-30
16 Sie hatten aber zu der Zeit einen berüchtigten Gefangenen, der hieß Jesus Barabbas.
17 Und als sie versammelt waren, sprach Pilatus zu ihnen: Welchen wollt ihr? Wen soll ich euch losgeben, Jesus Barabbas oder Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus?
18 Denn er wußte, daß sie ihn aus Neid überantwortet hatten.
19 Und als er auf dem Richterstuhl saß, schickte seine Frau zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; denn ich habe heute viel erlitten im Traum um seinetwillen.
20 Aber die Hohenpriester und Ältesten überredeten das Volk, daß sie um Barabbas bitten, Jesus aber umbringen sollten.
21 Da fing der Statthalter an und sprach zu ihnen: Welchen wollt ihr? Wen von den beiden soll ich euch losgeben? Sie sprachen: Barabbas!
22 Pilatus sprach zu ihnen: Was soll ich denn machen mit Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus? Sie sprachen alle: Laß ihn kreuzigen!
23 Er aber sagte: Was hat er denn Böses getan? Sie schrien aber noch mehr: Laß ihn kreuzigen!
24 Als aber Pilatus sah, daß er nichts ausrichtete, sondern das Getümmel immer größer wurde, nahm er Wasser und wusch sich die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig an seinem Blut; seht ihr zu!
25 Da antwortete das ganze Volk und sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!
26 Da gab er ihnen Barabbas los, aber Jesus ließ er geißeln und überantwortete ihn, daß er gekreuzigt werde.
27 Da nahmen die Soldaten des Statthalters Jesus mit sich in das Prätorium und sammelten die ganze Abteilung um ihn.
28 Und zogen ihn aus und legten ihm einen Purpurmantel an
29 und flochten eine Dornenkrone und setzten sie ihm aufs Haupt und gaben ihm ein Rohr in seine rechte Hand und beugten die Knie vor ihm und verspotteten ihn und sprachen: Gegrüßet seist du, der Juden König!,
30 und spien ihn an und nahmen das Rohr und schlugen damit sein Haupt.
Liebe Gemeinde!
Es gibt einen Aspekt der Leiden Jesu, der leicht übersehen wird. Das ist die offensichtliche Verhöhnung des Rechts. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit wird Jesus unter Mißachtung des Rechts hingerichtet. Der Hohe Rat des Volkes Israel und der Statthalter des Römischen Weltreiches: Beide sind höchste Instanzen für Recht und Gerechtigkeit. Beide, Rom und Jerusalem, sind je auf ihre Weise Höhepunkte der Rechtsprechung, beide verfügten auch über einen Reichtum an Erfahrung und Erkenntnis in Sachen Recht, Gericht, Gesetz und Urteil. Das war Jerusalem und Rom auch bewußt, und deren Stolz.
Der Hohe Rat wollte unbedingt, daß Jesus hingerichtet wird. Zugleich wollten sie ebenso, daß Jesus durch die Römer hingerichtet wird. Der mögliche Zorn des Volkes, das ja in deren Augen Jesus „nachlief“ sollte sich gegen die Römer richten – auf jeden Fall aber nicht gegen den Hohen Rat.
Pilatus hatte bis dahin keine Schuld an Jesus gefunden. Als Richter sah er keinen Grund, Jesus des Todes schuldig zu sprechen.
Und zwischen ihnen steht Jesus.
Er hat sich so erniedrigt und dahingegeben, daß Menschen über sein Leben und seinen Tod urteilen und bestimmen.
Gegenüber Pilatus verteidigt er sich nicht selbst; er läßt seine Unschuld für sich selbst sprechen. Zugleich steht für den Hohen Rat die Schuld Jesu fest. Aber sie wollen nicht das Urteil sprechen. Sie können es nicht stehen lassen, daß Pilatus keine Schuld an Jesus findet.
Pilatus erkennt, „daß sie ihn aus Neid überantwortet hatten.“ Der Hohe Rat neidete Jesus die Nachfolger aus ganz Israel. Er stellt ihre Macht in Frage. Diese Macht wollten sie nicht hergeben, und schon gar nicht Jesus überlassen.
Pilatus hätte alle Möglichkeit gehabt, das Urteil: „Unschuldig!“ zu fällen und auszusprechen, und mit seiner Macht aufrechtzuerhalten. Stattdessen will er sich taktisch absichern.
Es gibt die Gewohnheit, aus Anlaß des Passafestes dem Volk einen Gefangenen loszugeben. Eine Amnestie – ein Ostergeschenk für das Volk, sozusagen. „Welchen sie wollten.“
Pilatus will also das Urteil von sich wegschieben, und das Volk ein Urteil sprechen lassen. Eine Taktik, sich aus der Verantwortung zu stehlen.
Der Hohe Rat traute dem Volk nichts Gutes zu. Sie wollten Jesus nicht öffentlich töten, sondern heimlich, „auf daß nicht ein Aufruhr werde im Volk.“ (Matthäus 26, 5).
Also beide verließen sich auf das Verhalten des Volkes – und richteten sich danach. Doch das Urteil eines Richters soll sich nach dem Gesetz richten, und nicht nach Mehrheit oder Minderheit von Menschen.
Auf jeden Fall meint Pilatus, daß er das Volk gegen den Hohen Rat ausspielen kann.
Er will diese Festamnestie dazu nutzen, Jesus loszuwerden – gegen den Hohen Rat.
Barabbas. „Sohn des Abba“ , vielleicht auch „Sohn des Vaters“. Ein eindeutig schuldiger, berüchtigter, verurteilter Aufrührer und Mörder. Also das, was vor allem der Hohe Rat ablehnte – Kein Aufruhr! Zugleich hatte das Volk dann auch die Gelegenheit, sich für Jesus und gegen den Terror zu bekennen.
Zugleich wird Jesus mit diesem eindeutig Schuldigen auf eine Stufe gestellt. Denn ist soll ja ein Gefangener freigelassen werden. Pilatus übernimmt also einfach das Urteil des Hohen Rates, in der Hoffnung den Hohen Rat durch das Volk auszuhebeln.
Während Pilatus selbst seine Amt und seine Aufgabe komplett aufgibt und das Recht zu einer Frage von Taktik macht, will er sich auf das Volk verlassen, daß es Recht und Unrecht unterscheidet – und um die Freiheit Jesu bittet, sich gegen den Mörder Barabbas entscheidet.
Mitten in dieser Verhandlung platzt ein Bote mit einer Nachricht von der Frau des Pilatus.
„Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten! Denn ich habe heute viel erlitten im Traum von seinetwegen.“
Für die Römer, wie für viele, war ein Traum ein Orakel, ein Wink aus dem Jenseits. Pilatus bekam also ein Zeichen von oben, daß Jesus unschuldig war. Das hätte ihn stärken sollen, als Richter ohne Ansehen der Person zu urteilen. Zugleich hatte seine Frau überhaupt keine Aufgabe am Gericht, und war am Urteil nicht beteiligt.
Wie muß es für Jesus gewesen sein – nach seiner menschlichen Natur – dieses willkürliche Hin und Her über sein Leben und seine Person mit anzusehen!
Doch während Pilatus in dieser Weise abgelenkt ist, haben die Hohenpriester und der Hohe Rat Gelegenheit, auf das Volk einzuwirken. Sie überredeten das Volk, daß sie um Barabbas bitten, Jesus aber umbringen sollten. Die höchsten Richter Israels tun alles, daß ein Verbrecher, ein Mörder, ein Aufrührer, freigelassen wird! Das ist eine verkehrte Welt. Sie selbst wollten Jesus als Aufrührer vor Pilatus hinstellen. – Um Jesus verurteilt zu bekommen, sind sie bereit, einen verurteilten eindeutig schuldigen Mörder freizusprechen.
Das ist eine verkehrte Welt.
Und, wie gesagt, für Jesus eine abgrundtiefe Erniedrigung. Das Volk, das ihn mit Hosianna als König begrüßt hatte, und aus allen Regionen des Heiligen Landes ihm nachgefolgt war, das Volk, das von seinen Wundern begeistert war, bis hin zu einer Totenauferweckung! – Dieses Volk läßt sich überreden, in sein Angesicht sich für einen Mörder zu entscheiden. Möglich ist es, daß die Oberschicht Israels dem Volk klarmachte: Pilatus schützt euren Jesus. Euer Jesus war nie auf eurer Seite, er ist ein Verräter auf der Seite der Römer.
Alle um Jesus herum widersprechen sich aufs Krasseste. Und jeder Widerspruch bedeutet für Jesus den Tod. Jesus badet den Widerspruch aus, der alle Menschen zu zerstören droht.
Auf jeden Fall geht die Taktik von Pilatus nicht auf.
Er wird Jesus nicht los. Und wieder sagt er sich von seinem Amt und von seiner Macht für das Recht los.
Er, der Richter, fragt den Kläger, was er mit dem Angeklagten tun soll.
„Pilatus sprach zu ihnen: Was soll ich denn machen mit Jesus, von dem gesagt wird, er sei der Christus? Sie sprachen alle: Laß ihn kreuzigen!
Er aber sagte: Was hat er denn Böses getan? Sie schrien aber noch mehr: Laß ihn kreuzigen!“
Jetzt ist das Volk in Aufruhr. Der Hohe Rat wollte das vermeiden, und jetzt hat der Hohe Rat selbst den Aufruhr mit Absicht verursacht.
Wenn Pilatus sich jetzt noch zu Jesus bekennen würde, dann würde sich dafür selbst in Gefahr begeben. Das wird nicht passieren.
Nun rettet Pilatus sich selbst.
Das Ritual des Händewaschens kommt aus dem Alten Testament. (5. Mose 21, 6). Es ist ein Unschuldsbekenntnis – oder ein Unschuldsschwur. Wenn in einer Stadt ein Toter gefunden wird, von dem die Verantwortlichen nichts wissen, dann dient dieses Ritual der Reinigung von dem Blut, daß auf dem Gebiet der Stadt von anderen, unbekannten vergossen wurde. Dieses Ritual wendet Pilatus an und übergibt Jesus dem Volk zur Kreuzigung.
Damit bezeugt Pilatus das Unrecht dieser Kreuzigung. Denn die Hände werden nur gewaschen, wenn man eine Schuld von sich weist. Es gibt also eine Schuld. Ein Richter, der gerecht urteilt, braucht kein Händewaschen.
Jesus nimmt Schuld auf sich in seinem Tod. Das wird überdeutlich. Das Gesetz und das Recht in den Händen sündiger Menschen werden zum Unrecht. Das bedeutet, daß nur noch Gott urteilen kann und daß Jesus sein Recht nur noch von Gott erwarten kann.
Das spricht das ganze Volk aus. Als Pilatus die Schuld und die Verantwortung für den Tod Jesu von sich weist, „antwortet das ganze Volk: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“ Ein schwerwiegendes Wort, daß sich aber aus dem ganzen Prozeß ergibt. Erst der Hohe Rat, und dann das überredete Volk fordern ja die Kreuzigung. Sie setzen sich gegen Pilatus durch und übernehmen damit vor Gott die volle Verantwortung für diesen Tod. Es ist ein Schwur: „Wenn dieser Tod ein Unrecht ist und eine Strafe von Gott verdient, dann soll diese Strafe uns treffen – – und unsere Kinder.“ Wenn sogar die eigenen Kinder mit einbezogen werden, dann kann das nur eines heißen: Das ganze Volk sieht sich 100%ig im Recht, wenn es Jesus kreuzigen läßt.
Im Namen des Volkes wurde Jesus angeklagt, im Namen des Volkes wurde für Barabbas gegen Jesus die Freiheit erbeten, im Namen des Volkes wurde die Kreuzigung gefordert und die Verantwortung für diesen Tod übernommen.
Dieses Geschehen kann man nur mit angehaltener Luft verfolgen. Es ist ein schauriges Geschehen. Es bringt den Widerstand, den Aufruhr des Menschen gegen Gott auf die Spitze.
Dieser Mensch, für den niemand mehr spricht, wird weiter systematisch zerstört. Durch die Verspottung. Der Titel: Der König der Juden, der schon von dem Hohen Rat als Anklage genutzt wurde, und den Pilatus als Freispruch nutzen wollte – denn er fragt ja: Soll ich euren König kreuzigen? – der bleibt jetzt an Jesus hängen. Das war die einzige Schuld, zu der er sich bekannte: „Du sagst es!“. Nun wird ihm bewiesen, was es heißt, der König der Juden zu sein: Eine Majestät ohne Macht. Von ihm hat niemand etwas zu befürchten. Die Dornenkrone, der rauhe Soldatenmantel und das Zepter, nämlich ein Rohr. Sie alle sind das Gegenteil von Majestät. Ja, statt daß er mit dem Zepter regiert, wird er damit geschlagen.
Unser Gesangbuch singt dazu:
Kein Zepter, keine Krone sucht er auf dieser Welt;
im hohen Himmelsthrone ist ihm sein Reich bestellt.
Er will hier seine Macht und Majestät verhüllen,
bis er des Vaters Willen
im Leiden hat vollbracht.
Liebe Gemeinde! Jesus hat die größte Anklage auf sich genommen. Er hat das furchtbarste Urteil auf sich genommen. Er hat das getan, damit der Fluch uns nicht mehr trifft.
Er ist unser König. Seine Macht trägt uns durch. Eine Macht, die diese Finsternis durchleidet, ist größer als die Macht, die ihn zerstört. Unter diese Macht sollen wir uns im Glauben bergen.
Der Friede Gottes, welcher höher ist, als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.