Sexagesimae

Von | April 22, 2025
Jean-François Millet – Der Sämann (1850)

Predigt Pfarrer Dr. Wolfgang Fenske


Die Gnade + unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen.
Amen.

Gottes Wort für die Predigt steht geschrieben beim Evangelisten Markus im 4. Kapitel und wird im Laufe der Predigt verlesen.

Der Herr segne an uns sein Wort. – Amen.

Liebe Gemeinde,

der sechsjährige Enkel hatte seiner Großmutter beim Setzen der Kartoffeln zugeschaut. Und nun wollte er von seiner Oma wissen, wie lange es dauert, bis die Kartoffel ganz groß ist. Diese Frage trieb ihn um.

Als dann das erste Grün aus der Erde kam, ging er jeden Tag einmal hinaus, zog kräftig, schaute die wachsende Kartoffel an und kam zurück, um von der aktuellen Größe zu berichten. „Ist schon wieder ein Stück größer geworden“, erzählte er, nachdem er sie natürlich wieder liebevoll in den Boden gedrückt hatte.

Natürlich können wir ahnen, wie das ausging. Es dauerte nicht sehr lange, bis die Erfolgserlebnisse ausblieben und die arme Oma ihrem verdutzten Enkel klarmachen musste: Es wächst halt nur, wenn du warten kannst.

Auch wenn es ein bisschen zum Lachen ist, so fremd ist mir der Drang des Enkels nicht, so absonderlich scheint sein Wunsch doch nicht zu sein. Auch wir Erwachsene verspüren den Wunsch genau hinzusehen und zuzusehen, wie etwas wächst und größer wird, wie sich etwas entwickelt. Wir würden es am liebsten auch noch messen, damit wir jeden Zentimeter mitkriegen.

Auch in unserem Pedigtwort ist vom Wachsen die Rede und vom Großwerden. Es steht beim Evangelisten Markus im 4. Kapitel:

„Jesus sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht, wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.“

Der Bauer in unserer Geschichte weiß nicht, wie es dazu kommt, dass die Frucht gedeiht. Er weiß aber, dass die Frucht selbst die Botschaft in sich trägt, damit sie wachsen kann.

Mich ärgert der Bauer unserer Geschichte ein bißchen. Natürlich muss er Kenntnis haben, was dem Wachstum zuträglich ist und was nicht. Und so bleibt für mich die Frage, ob ein Bauer es wagen kann, die Saat sich selbst zu überlassen? Muss er da nicht auch mal nachhelfen: bewässern, düngen und gegen Schädlinge vorgehen? Schließlich geht es ja um seine Existenzgrundlage.

Und das weiß der Bauer auch, dass es Saat gibt, die nicht aufgeht. Deshalb sucht der moderne Erzeuger nach Möglichkeiten, die ihm eine gute Ernte garantieren. Düngemittel sollen ihm helfen, möglichst viel aus dem Boden heraus zu holen. Treibhäuser machen ihn unabhängiger vom Wetter, von Kälte und Frost. Und die Gentechnik kann seine Frucht so verändern, dass Schädlinge keinen Gefallen mehr an ihr finden.

Und doch ist es so, dass das eigentliche Wachstum ohne Einfluss und Zutun des Menschen erfolgt. Es liegt außerhalb seiner Möglichkeiten. Der Bauer kann nicht der Frucht befehlen zu wachsen. Er kann ein günstiges Klima für sie schaffen, wachsen muss sie allein – und er muss sie dazu in Ruhe lassen.

Wir Menschen haben die Wachstumskraft nicht zur Verfügung. Wir können die vorhandene Kraft nur an ihrer Entfaltung hindern.

In unserer Geschichte ist Gott der Bauer, der seinen Samen in uns legt, Gottessame auf Menschenland. Wir können uns fragen, was geschieht, wenn Gott seinen Samen in uns legt. Geschieht dann etwas mit mir? Etwas, das ich gar nicht merke? Etwas radikales, etwas veränderndes? Oder ein langsames Wachstum?

Entscheidend ist: Gottes Reich wirkt in mir und an mir, egal ob ich’s merke! Gott sät aus und sein Same fängt an, in mir Frucht zu tragen. Es wächst und entsteht durch mich und in mir. Wir sind beteiligt am Bau des Reiches Gottes, und es wächst in uns, ohne dass wir es merken wie es wächst.

Spannende Frage, was Gott da aussät, damit dieses Wachstum, dieses geistliche Wachstum geschieht! Welchen Samen benutzt er für Dich und mich? Ich denke es sind drei Dinge, die Gott als Samen für uns be- nutzt. Die Kirche spricht seit alters von den griechischen Begriffen Martyria, Leiturgia und Diakonia – also vom christlichen Zeugnis, vom Gottesdienst und vom liebenden Dienst am Nächsten.

Als erstes also Martyria – das christliche Zeugnis. Das christliche Zeugnis geschieht durch das Wort Gottes. Und wo finden wir Gottes Wort? Wir finden es in der Bibel, würden die Konfirmanden jetzt wohl antworten. Klar, das ist natürlich richtig. Aber – und das setze ich immer gleich hinzu – Gottes Wort ist auch die Predigt.

Gottes Wort ist kein Buch, das man zwischen zwei Buchdeckeln mit sich herumtragen könnte, sondern Gottes Wort ist ein lebendiges Wort, d. h. ein Wort, das gehört, gelesen, weitergesagt werden muß, damit es Menschenohren und -herzen erreicht.

Und dieses Wort Gottes könnt auch Ihr unter Euch kursieren lassen. Zu Hause in der Andacht. Beim Gespräch mit Menschen, die Sorgen haben oder in Not sind. In der Schule. Am Arbeitsplatz. Am Gartenzaun. Einfach über- all. Immer geht es um das Zeugnis unseres Glaubens. Um das Wort Gottes. Um das Wort, das von so vielen Menschen mit ihrem Leben – und manchmal auch mit ihrem Tod – bezeugt wurde und auch heute noch bezeugt wird.

Gott sät dieses, sein Wort, aus in unsere Herzen. Dort spricht sein göttliches Wort zu uns. Sein Wort, das in Jesus Christus Mensch geworden ist. Durch ihn ist es greifbar und lebendig.

Das zweite, das Gott benutzt, um auszusäen, ist der Gottes- dienst der Kirche – die Leiturgia: Gemeint ist nun aber nicht, daß bis eben vom Wort Gottes die Rede war, und nun vom Sakrament. Gemeint ist vielmehr der Ort, an dem die Gemeinde als Ganze ihrem Herrn begegnet.

Und dieser Ort, an dem Gott sein Volk besucht, ist der Gottes- dienst. Hier läßt sich seine Gemeinde die Sünde vergeben, hier hört sie sein Wort, hier empfängt sie Leib und Blut Jesu Christi, hier läßt sie sich von ihm segnen.

Im Gottesdienst dankt die Gemeinde ihrem Herrn für alles, was sie von ihm empfangen hat, sie lobt und preist ihn mit Liedern, sie betet ihn an, sie bittet für sich und für die Welt, in die sie gesandt ist. In all dem öffnet sich die Gemeinde dem Wirken Gottes. Sagt sie: „Komm, heiliger Geist, und erneuere die Herzen dei- ner Gläubigen!“ Im Gottesdienst sät Gott seinen Samen unter seine Gemeinde aus.

Er stärkt die Gemeinde und rüstet sie aus, damit sie vor der Welt Zeugnis geben kann.

Das dritte, das Gott als Samen benutzt, ist die liebende Hin- wendung zum Nächsten – die Diakonia. Ganz konkrete Liebe. Jesus hat uns die Liebe des Vaters im Himmel gezeigt. Hat uns gezeigt, was der Wille Gottes für unser Leben ist:

„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

Der Herr Christus hat uns seine Liebe zu den Menschen offenbart, die Liebe zu den Sündern, zu den Gebundenen und Angefochtenen, die Liebe zu den Kranken und Versehrten. Sie ist durch ihn so konkret geworden, dass er am Kreuz für uns gestorben ist –– aus Liebe zu dir und zu mir.

Auch wir als christliche Gemeinde sind nicht für uns selbst da. Der Herr Christus will, daß wir die Liebe, die wir von ihm empfangen haben, weitergeben. Daß wir seine Liebe aussäen, indem wir uns unserem Nächsten liebevoll zuwenden – indem wir also „Diakonie“ üben.

Martyria, Leiturgia, Diakonia – Zeugendienst, Gottesdienst, Liebesdienst – diese drei sind keine Angebotspalette, aus der man sich das, heraussuchen könnte, was einem am meisten liegt. Nein, diese drei Dienste gehören unauflöslich zusammen:

Das Zeugnis des Christen bleibt leer und schal, wenn es nicht in der liebenden Zuwendung zum Nächsten Gestalt gewinnt. Und ohne die Zurüstung durch den Gottesdienst der Gemeinde wird das Zeugnis des Christen geistlos und seine Diakonie zur bloßen Sozialarbeit.

Die Saat Gottes geschieht in allen drei Diensten, und eine Gemeinde, die einen davon vernachlässigt, nimmt letztlich Schaden an allen.

Aber so wie der Bauer auf die Ernte wartet und inzwischen die Saat reifen lässt, so dürfen auch wir wachsen lassen. Wir dürfen die Kontrolle darüber abgeben, ob Wachstum vorhanden ist. Es sind nicht wir, die die Wachstumskraft zur Verfügung haben.

Darum sollen wir auch nicht das Reich Gottes durch Buße und Gewalt herbeizwingen wollen, so wie es damals die Pharisäer und Zeloten wollten. Gott setzt den Anfang des Gottesreiches und sorgt für dessen Vollendung.

Manche diskutieren, ob durch die Naturkatastrophen das Reich Gottes näher herbei gekommen ist. Ob solch ein Ereignis der Anfang der Wehen sein könnte, von denen Jesus spricht. Aber das sind alles Spekulationen.

Wir sollen in jeder Stunde bereit sein, dass unser Herr kommt. Wann das ist, das weiß nur Gott allein. Die Vollendung des Gottesreiches geschieht, wenn die Frucht reif ist zur Ernte; so wie der Bauer erntet, wenn die Frucht reif ist.

Was hindert uns, genauso unseren Glauben und seine Frucht wachsen zu lassen, wie der Bauer das tut? Die Kontrolle abgeben! Aber das bringt uns an unsere Grenzen, deckt Ängste auf, die damit verbunden sind.

Was wird dann aus unserer Gemeinde, wenn wir die Kontrolle abgeben? Was wird aus unseren Gemeindekreisen? Was wird aus den Jungen? Den Alten? Wie sieht es dann mit der Spendenbereitschaft aus? Wir hatten doch so viel vor!

Gottes Wort einfach wachsen lassen, das fällt uns in der Kirche schwer. Da kommt die Angst, bestimmte Vorgänge nicht mehr kontrollieren zu können. Wir wollen gerne die Richtung des Wachstums angeben. Wir wollen lenken, zurückschneiden und gestalten, wie wir uns das vorstellen.

Ich stelle mal vorsichtig die Frage in den Raum, ob das nicht auch eine – fromme – Form der Sünde ist. Statt Gottes Wort einfach wachsen zu lassen, geraten wir in Kirche und Gemeinde nur allzu oft in Atemlosigkeit und hektische Betriebsamkeit.

Im Bild gesprochen: Die Gemeinde blickt nicht mehr vertrauensvoll auf Christus, sondern schaut ängstlich und verunsichert auf sich selbst. Und hält verkrampft fest, was sie sich eigentlich mit offenen Händen von Gott schenken lassen müßte.

So wird die Saat Gottes unter der eigenen Betriebsamkeit er- stickt … Kann sich das gelassene Verhalten des Sämanns heute niemand mehr erlauben? Wachsen lassen können – den Samen wachsen lassen können – Gottes Wort unter uns wachsen lassen können …

Der Bauer weiß nicht, wie es dazu kommt, dass die Frucht gedeiht. Er weiß, dass sie Zeit zum Wachsen braucht. Warum meinen wir es lenken zu müssen, dass der Samen in den Herzen der Menschen zu wachsen beginnt?

Wir haben nur den Samen auszustreuen – durch Zeugendienst, durch Gottesdienst, durch Liebesdienst. Und wir dürfen Vertrauen haben, dass der Samen aufgeht, wann und wo Gott es möchte.

Was passiert wohl, wenn wir das Vertrauen in den Samen haben, dass er aufgehen wird? Was passiert wohl, wenn wir aufhören, das Wachstum selbst machen zu wollen? Können wir uns vorstellen, eine Gemeinde zu sein, in der wir davon ausgehen, dass der Samen Gottes unter uns aufgeht?

Würde uns das nicht gelassen machen? Wenn wir nicht mehr die sein wollen, die das Wachstum machen wollen?

Wir würden ihm nicht immer wieder ins Handwerk pfuschen, und an den jungen Pflänzchen ziehen, so wie es der Junge in unserem Beispiel gemacht hat, weil er unbedingt wissen wollte, wie stark das Wachstum der Kartoffel ist.

Lasst uns das tun, was auch der Bauer tut, wenn er auf das Wachsen der Früchte wartet: Er betet, dass Gott sein Tun mit Wachstum und Gedeihen segnet.

Wir dürfen Gott darum bitten, dass er unserer Gemeinde Wachstum schenkt, sein Wachstum, so, wie es nach seinem Willen ist. Amen.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Beitragsbild: Jean-François Millet – Der Sämann (1850)