Pfarrer Johann Hillermann
20.12.20023
1 Ein Gebet für den Elenden, wenn er verzagt ist und seine Klage vor dem Herrn ausschüttet.
2 Herr, höre mein Gebet und laß mein Schreien zu dir kommen!
3 Verbirg dein Antlitz nicht vor mir in der Not, /
neige deine Ohren zu mir;
wenn ich dich anrufe, so erhöre mich bald!
4 Denn meine Tage sind vergangen wie ein Rauch,
und meine Gebeine sind verbrannt wie von Feuer.
5 Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wie Gras,
daß ich sogar vergesse, mein Brot zu essen.
6 Mein Gebein klebt an meiner Haut vor Heulen und Seufzen.
7 Ich bin wie die Eule in der Einöde,
wie das Käuzchen in den Trümmern.
8 Ich wache und klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.
9 Täglich schmähen mich meine Feinde,
und die mich verspotten, fluchen mit meinem Namen.
10 Denn ich esse Asche wie Brot
und mische meinen Trank mit Tränen
11 vor deinem Drohen und Zorn,
weil du mich hochgehoben und zu Boden geworfen hast.
12 Meine Tage sind dahin wie ein Schatten,
und ich verdorre wie Gras.
13 Du aber, Herr, bleibst ewiglich und dein Name für und für.
14 Du wollest dich aufmachen und über Zion erbarmen;
denn es ist Zeit, daß du ihm gnädig seist, und die Stunde ist gekommen
15 – denn deine Knechte wollten gerne, daß es gebaut würde,
und es jammert sie, daß es in Trümmern liegt –,
16 daß die Heiden den Namen des Herrn fürchten
und alle Könige auf Erden deine Herrlichkeit.
17 Ja, der Herr baut Zion wieder
und erscheint in seiner Herrlichkeit.
18 Er wendet sich zum Gebet der Verlassenen
und verschmäht ihr Gebet nicht.
19 Das werde geschrieben für die Nachkommen;
und das Volk, das er schafft, wird den Herrn loben.
20 Denn er schaut von seiner heiligen Höhe,
der Herr sieht vom Himmel auf die Erde,
21 daß er das Seufzen der Gefangenen höre
und losmache die Kinder des Todes,
22 daß sie in Zion verkünden den Namen des Herrn
und sein Lob in Jerusalem,
23 wenn die Völker zusammenkommen
und die Königreiche, dem Herrn zu dienen.
24 Er demütigt auf dem Wege meine Kraft,
er verkürzt meine Tage.
25 Ich sage: Mein Gott, nimm mich nicht weg /
in der Hälfte meiner Tage!
Deine Jahre währen für und für.
26 Du hast vorzeiten die Erde gegründet,
und die Himmel sind deiner Hände Werk.
27 Sie werden vergehen, du aber bleibst;
sie werden alle veralten wie ein Gewand;
wie ein Kleid wirst du sie wechseln,
und sie werden verwandelt werden.
28 Du aber bleibst, wie du bist,
und deine Jahre nehmen kein Ende.
29 Die Söhne deiner Knechte bleiben wohnen,
und ihr Geschlecht wird vor dir gedeihen.
Psalm 102
HERR, segne Dein Wort an unseren Herzen. Amen.
Liebe Gemeinde!
Das ganze Neue Testament ist Gottes Erhörung dieses Gebets. Dieser Psalm faßt die Bitte des Alten Testaments zusammen.
Das ist sozusagen der Status des Volkes Israel auf den Gott mit der Geburt Jesu antwortet. Er ist ein Bußpsalm.
Ich bin überzeugt, daß wir kaum wissen, wie es ist, überhaupt einen Psalm, oder gar eine Zeile eines Psalms zu beten.
Denn es geht hier nicht darum, was ich in mir vorfinde. Es geht nicht um die Frage: Drückt dieser Psalm das aus, was mich erfüllt und bewegt?
Der Heilige Geist gibt uns Worte und Gedanken, in die wir uns ein Leben lang einleben sollen und können.
Ein Beter wird Teil vom Psalm, und nicht umgekehrt.
Wir sind nicht vor Gott, und der Psalm drückt das aus, sondern: Der Psalm nimmt uns auf, und bringt uns vor Gott.
Deshalb können wir uns fragen:
Wie ist es eigentlich, wenn ein Mensch vor Gott steht?
Wie ist es eigentlich, mit Leib und Seele, mit seinem ganzen Menschsein, auf Jesus zu warten, Ihn zu erwarten?
Aus eigener Kraft können wir das nicht. Unser Leib und unsere Seele sind zu träge, zu sehr verfinstert, abgehärtet und zu verzagt.
Nun ist dieser Psalm zu groß. In einer Andacht kann man ihn nicht erfassen. Ich möchte heute einmal etwas ungewöhnliches tun, und Gedanken von dem Reformator der Kirche, Dr. Martin Luther, in Auswahl wiedergeben.
Er gibt dem Psalm die Überschrift: „Gebet des Propheten mit dem gläubigen Volk zu Christus, dem kommenden Erlöser.“
Die Grundsituation ist: Die ganze Welt ist so offensichtlich ohne Gott, und darunter leidet der Beter. Was dem Beter fehlt, danach fragt die Welt nicht.
Herr, höre mein Gebet und laß mein Schreien zu dir kommen!
Verbirg dein Antlitz nicht vor mir in der Not, /
neige deine Ohren zu mir;
wenn ich dich anrufe, so erhöre mich bald!
Gott ist verborgen. Das macht mich traurig. Ich will nicht das haben, was alle Welt begehrt, sondern ich will Gott selbst haben. Es geht nicht um Reichtum oder Glück, sondern um Gott selbst.
Erhöre mich, damit meine Traurigkeit über Gottes Verborgenheit nicht in Verzweiflung ende.
Ich merke, wie mein Leben in dieser Welt, mit allem, was sie bietet, ohne Gott einfach hohl und sinnlos und zur Belastung wird.
Denn meine Tage sind vergangen wie ein Rauch,
und meine Gebeine sind verbrannt wie von Feuer.
Mein Herz ist geschlagen und verdorrt wie Gras,
daß ich sogar vergesse, mein Brot zu essen.
Mein Gebein klebt an meiner Haut vor Heulen und Seufzen.
Mein Leben ist ohne Frucht, von meinen Mühen bleibt nichts übrig. Meine Kräfte, meine Motivation, meine geistliche Kraft, mein Glaube, das alles kommt mir abhanden. So sehr, daß ich sogar vergesse mein Brot zu essen. Das ist geistliche Speise, Stärkung aus dem Wort Gottes. Luther: „Dies ist das Gebet eines Elenden und Armen, denn ein Elender und Armer trachtet nicht nach dem Reichtum des Fleisches.“
Weil er mit der Welt nicht mitmacht, und alles mitnimmt, zugleich aber darunter leidet, wie Gottes Gaben mißbraucht werden, ist er angegriffen. Er ist ein trauriger Mensch: Mein Gebein klebt an meiner Haut vor Heulen und Seufzen.
Er ist mitten im Lärm dieser Welt einsam:
Ich bin wie die Eule in der Einöde,
wie das Käuzchen in den Trümmern.
Ich wache und klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.
Wer auf Gott wartet, sieht, wie kaputt alles ist. Wie leer. Gerade auch dort, wo die Welt beeindruckt ist von sich selbst.
„Auf dem Dach sagt er; als wollte er sagen: Die Welt ist ein Haus, in dem alle schlafen und eingeschlossen liegen, ich allein bin außer dem Haus, auf dem Dach, noch nicht im Himmel und auch nicht in der Welt, die Welt habe ich unter mir und den Himmel über mir, also schwebe ich einsam im Glauben zwischen dem Leben der Welt und dem ewigen Leben.“
Wenn die Welt – und das können Verwandte und Freunde sein – merkt, daß man eben nicht ganz mit ihnen nach dem giert, was die Welt bietet, dann wird der Beter auch noch fremd.
Täglich schmähen mich meine Feinde,
und die mich verspotten, fluchen mit meinem Namen.
Das Warten auf Gott weckt in Menschen, über alle sonst so stolz beschworenen Toleranz, den Drang zu spotten und zu verletzen.
Das sind Erfahrungen zwischen Menschen. Die sind schmerzlich und bitter.
Doch der Heilige Geist führt uns weiter. Und das ist die ganz entscheidende Leistung, die der Psalm für einen Beter tut: Er macht das alles zu einer Sache zwischen mir und Gott. Das ist es, was wir meistens nicht schaffen und uns nicht vorstellen können:
Denn ich esse Asche wie Brot und mische meinen Trank mit Tränen vor deinem Drohen und Zorn, weil du mich hochgehoben und zu Boden geworfen hast.
DU hast es getan! Du – Gott. Ich bin Teil der gefallenen Menschheit. Und spüre am eigenen Leibe, wie sehr Du, Gott, mit der Sünde nicht vereinbar bist und niemals Frieden mit ihr machen wirst. Doch das ist die entscheidende Wende. Der Psalm bringt mich vor Gott. Gott kann alles, tut alles, darum kann ich mit ihm über alles reden.
Meine Tage sind dahin wie ein Schatten, und ich verdorre wie Gras. Du aber, Herr, bleibst ewiglich und dein Name für und für.
Der Heilige Geist macht mich wieder zu einem Geschöpf vor meinem Schöpfer. Ich bin vergänglich; Gott ist unvergänglich.
Ich bin sterblich, Gott ist unsterblich. Unsterblich gerade in Seinem NAMEN. Also in Seiner Identität, in Seiner Unverwechselbarkeit und das heißt auch in Seinen Worten, Seinem Willen.
Und für den Psalm bedeutet das auch: Gott bleibt mit Seinem Namen ewiglich ansprechbar. Ansprechbar auf sich selbst. Es ist keine allgemeine, beliebige Ewigkeit. Es ist eine bestimmte, erkennbare Ewigkeit.
Für die gesamte Christenheit, und so auch für Luther, ist Gott ewiglich erkennbar und ansprechbar in Jesus Christus.
An ihn richtet sich der ganze Psalm, jedes Wort davon.
Wenn der Heilige Geist durch den Psalm einen Menschen so vor Gott, vor Jesus gestellt hat, dann gibt der Heilige Geist es auch dem Menschen, die größten und verwegensten Bitten zu äußern.
Du wollest dich aufmachen und über Zion erbarmen;
denn es ist Zeit, daß du ihm gnädig seist, und die Stunde ist gekommen.
Hören wir Luther dazu: „Ich kann nicht zu dir kommen, darum, mein Gott, stehe auf und komm zu mir und hole mich zu dir. Das Aufstehen bedeutet die allersüßeste und gnädige Menschwerdung Gottes. Denn da ist er zu uns gekommen, auf daß er uns zu sich erhöhe, da hat er sich über Zion, sein Volk, erbarmt.“
Leider kann ich nicht den ganzen Psalm so durchgehen, wir hören aber weiter Luther – zu den Versen:
Ja, der Herr baut Zion wieder und erscheint in seiner Herrlichkeit.
„Durch die gnädige Menschwerdung Gottes ist es dazu gekommen, daß der unbekannte Gott bekannt wird und daß alle Ehre ihm allein gehört und niemand gerecht, gut, weise, stark, heilig, wahrhaftig ist, als Gott allein. Diese Ehre war vorher unbekannt, als die Menschen selbst für weise und gerecht achteten und also Gottes Ehre sich selber zuschrieben.“
Er wendet sich zum Gebet der Verlassenen
und verschmäht ihr Gebet nicht.
Gott beschenkt die, die ohne ihn arm sind. „Die eines armen Geistes sind, die in einem steten Durst nach Gnade und Gerechtigkeit ihn bitten, die sieht er gnädig an und sättigt sie MIT SICH SELBER — Denn Gott kann Seine Gnade nur den Demütigen geben, den Hungrigen, Durstigen, Verlassenen, Armen Sündern und Narren.“ Das sind die, die wissen, daß sie Gott nichts geben können, sondern rein Empfangende sind.
Die Menschwerdung Gottes ist die ultimative Gebetserhörung, und so ist die Bitte um Gottes Menschwerdung die ultimative Bitte.